ISBN 3-89626-513-X, 17, 80 EUR
Mit den Beiträgen:
Herbert Hörz: Brauchen wir eine neue Aufklärung?
Karl-Friedrich Wessel: Bildung ist Menschenbildung oder Schwierigkeiten mit der Souveränität
Dietrich Hoffinann: Tabus über dem Bildungsbegriff
Hans-Georg Hofmann: Freie humanistische Allgemeinbildung für alle contra verkaufte Bildung
Gerd Steffens: Sagen, was alle sagen – Bildung und die träge Last der Gemeinplätze
Hartmut Giest & Joachim Lompscher: Tätigkeitstheoretische Überlegungen zu einer neuen Lernkultur
Horst Weiß: Der Marxsche Begriff der Aneignung und seine Reflexion im Pädagogischen
Wilfried Bütow: Was soll und was vermag ästhetische Bildung? Konzepte zwischen gestern und morgen
Hansjoachim Lechner: Lernen in den naturwissenschaftlichen Fächern – Bedingungen und Möglichkeiten
Hubert Ivo: Alte Welt – neue Generationen – Lehrer dazwischen / Literatur
Editorial
Die Arbeitsgruppe Pädagogik der Leibniz-Sozietät behandelte am 25. Februar 2004 in ihrem 3. Kolloquium zur Bildung in Deutschland im 21. Jahrhundert das Thema „Bildung heute – Gefährdungen und Möglichkeiten“. Voraus gegangen waren Veranstaltungen zum „Jahrhundert des Kindes“ und zur „Bildung in der frühen Kindheit“. Die Ergebnisse deutscher Schüler im internationalen Vergleich und die gegenwärtige öffentliche Diskussion zur Bildungssituation in Deutschland waren zwar ein ständiger Bezugspunkt der Diskussion, aber sie waren nicht der eigentliche Grund für die Themenwahl und sie waren auch nicht der Gegenstand, der behandelt werden sollte. Das Ziel war grundsätzlicher auf eine an die Wurzeln gehende Kritik der Bildungssituation in Deutschland und ihre in Politik und Medien theoretisch verkürzte Interpretation gerichtet.
So wandte sich das Kolloquium in einem ersten Themenkreis der Problematik „Bildung und Globalisierung“ zu. Erörtert und diskutiert wurde die Aktualität des in der deutschen Aufklärung entstandenen und tradierten (abendländischen) Bildungsbegriffs und Bildungskanons (H. Hörz, K.-F. Wessel und D. Hoffmann) und seine gegenwärtige unter dem bornierten ökonomischen
Diktat des globalisierten Kapitals massiv betriebene Destruktion durch neoliberale Theorien (H.-G. Hofmann). In einem zweiten Block wurde das in der Folge einer kulturalistischen Deutung gesellschaftlicher Prozesse entstandene ideologische Konstrukt einer „neuen Lernkultur“ mit etablierten kognitiven und materialistischen Lerntheorien konfrontiert (G. Steffens, H.
Giest und J. Lompscher, H. Weiß und F. Klix). Der dritte Diskussionsschwerpunkt wandte sich der Domänenspezifik schulischen Lernens und einer Kritik der Loslösung des Prozesses von seinen Inhalten zu (W. Bütow und H. Lechner).
Abschließend wurde angesichts ausufernder Forderungen an die Lehrer der Versuch einer Rückbesinnung unternommen, indem die Funktion der Lehrer als Vermittler von ausgewählten Kulturgütern an jeweils neue Generationen mit ihren jeweils neuen Ansprüchen als ihr eigentlicher pädagogischer Auftrag reklamiert wurde (H. Ivo).
Die im vorliegenden Band der „Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät“ veröffentlichten Beiträge wurden in der Mehrzahl in der vorliegenden Form, allerdings auf das Maß von 20 min. verkürzt, vorgetragen. Der Beitrag von H.-G. Hofmann wird in stark gekürzter Form geboten. F. Klix konnte seinen Beitrag leider nicht mehr für die Veröffentlichung vorbereiten. H. Ivo, der
verhindert war, an der Sitzung teilzunehmen, reichte seinen Beitrag schriftlich ein.
Herbert Hörz
Brauchen wir eine neue Aufklärung?
Problemstellung: Von der Moderne und Postmoderne zur Neomoderne
Über die für das 21. Jahrhundert erforderliche Bildung wird umfangreich und kontrovers diskutiert. Die Leibniz-Sozietät hat sich, in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern, mit einer prinzipiellen Stellungnahme 2001 zum Forum Bildung mit der Forderung nach einer Bildungsreform an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert zu Wort gemeldet, die sich der großen Bildungstradition in Deutschland bewusst bleiben und zugleich als Faktor einer neuen Aufklärung in die bevorstehende Zukunft weisen soll. Es ist das Verdienst des Arbeitskreises Bildung unter der Leitung von Dieter Kirchhöfer und Gerhart Neuner, der Pädagogen und aller an Bildungsfragen interessierten Mitglieder der Sozietät, dass die Problemsituation auf diesem Gebiet in
Vorträgen, Kolloquien und Publikationen immer wieder neu analysiert wird.
So hat sich unsere Wissenschaftsakademie zum Jahr des Kindes, zur Kindheit in der DDR, zur Reformpädagogik, zur Allgemeinbildung und zu Problemen der vorschulischen Bildung geäußert. Auf diesem Kolloquium wird die prinzipielle Frage nach der Bildung heute, ihren Gefährdungen und Möglichkeiten erörtert werden. Das ist ein anspruchsvolles Thema, dem mit einem
interessanten Vortragsprogramm entsprochen wird. Das Präsidium der Leibniz-Sozietät dankt dem Arbeitskreis, vor allem unserem Mitglied Bodo Friedrich, seinen Mitstreitern und Helfern, für die ansprechende inhaltliche und organisatorische Vorbereitung, den Referenten für die Bereitschaft, zum Thema beizutragen und allen Teilnehmern für ihr Interesse. Wünschen wir uns
eine interessante Beratung.
In der genannten Stellungnahme wird die gegenwärtige Problemsituation charakterisiert. Neue Dimensionen der Beherrschung der Natur, eine größere Abhängigkeit der Menschen von ihr und die sich herausbildende Wissensgesellschaft verlangen solides Wissen, selbständiges Denken und verantwortliches Handeln, um diese Entwicklungen beherrschen zu lernen. Bildung darf
sich nicht an kurzlebigen Interessen und Schwankungen des Marktgeschehens orientieren. Es heißt weiter: „Nach wie vor besteht eine Kluft zwischen der naturwissenschaftlich-
technischen und der geisteswissenschaftlich-ästhetischen Kultur. Ignoranz gegenüber Wissenschaft und Technik oder gar Wissenschaftsfeindlichkeit erschweren unvermeidliche Transformationsprozesse.
Fehlendes oder tendenziös interpretiertes Wissen ist eine der Ursachen für Manipulierbarkeit, irrationale Ängste sowie Massenpsychosen. Es wächst der Einfluss von Bewegungen, die auf Aberglauben, auf Empfänglichkeit für Esoterik, für Transzendentales, für Okkultismus, für Astrologie und Wunderheilverfahren setzen. Hier gegenzuwirken ist nicht allein Sache der Schule, aber diese trägt für derartige Fehlentwicklungen ein gehöriges Maß an Mitverantwortung.
Die überfällige Synthese von Humanismus und Realismus bleibt hierzulande eine weithin ungelöste Aufgabe“ (Stellungnahme der Leibniz-Sozietät).
An dieser Situationsanalyse hat sich m.E. nicht viel geändert. Doch das Protestpotenzial ist gewachsen. Streiks und Demonstrationen von Schülern, Lehrern und Studenten haben das Problembewusstsein der Öffentlichkeit geschärft, ohne sich wesentlich auf die politischen Entscheidungsgremien auszuwirken.
Die in der genannten Stellungnahme genannte Aufgabe, Bildung als unverzichtbares Moment einer neuen Aufklärung zu begreifen, erfordert weitere Überlegungen, die ich herausfordern möchte. Meine Hauptthese ist: Wir befinden uns in einem geistig-kulturellen Umbruch, der zur Neomoderne führt. Wenn wir berücksichtigen, dass die Moderne durch den christlichen
Universalismus und die Postmoderne durch die Dekonstruktion der Moderne, durch die Kritik universaler Utopien gekennzeichnet ist, dann hat die Neomoderne die Einheit von Wissenschaft und Humanität, von Zivilisation und Kultur zu bedenken und so die positiven Ansätze der Moderne und Postmoderne aufzugreifen, ohne ihre zu kritisierenden Momente zu vernachlässigen.
Was bedeutet das für die Bildung? Zuerst ist zu klären, welcher Bildungsbegriff von mir benutzt wird. Ich schließe mich Hartmut von Hentig mit seiner Bestimmung an, die in der Tradition vieler Bildungstheoretiker begründet ist: „Bildung ist ein individueller, sich an und in der Person, am Ende durch sie vollziehender Vorgang. ,Ich bilde mich’, lautet die richtige Beschreibung.
Eine Form, die mir ein anderer aufprägt, macht mich nicht zum Gebildeten, sondern zu einem Gebilde. Und die Ertüchtigung für eine gesellschaftliche Tätigkeit ist etwas ganz anderes und heißt Ausbildung“ (2003a, 13). Ausbildung ist das, was gegenwärtig bezahlt wird. Die Kosten für Bildung werden reduziert. Die klassische Aufklärung setzte auf Wissensvermittlung. Die
Postmoderne zeigte die Vielfalt der Kulturen und damit der kulturell geprägten Bildungen. Beides ist zwar Bestandteil einer neuen Aufklärung in der Neomoderne und reicht doch nicht aus. Das möchte ich mit meinen Überlegungen zeigen. Ich stelle mich der Frage, ob wir diese neue Aufklärung brauchen.
Das setzt voraus, die Ziele der klassischen Aufklärung mit ihren Intentionen und Grenzen kurz zu bestimmen, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine neue Aufklärung zu charakterisieren, die Herausforderungen an die Bildung im 21. Jahrhundert mit den bestehenden Gefährdungen zu betrachten und die Möglichkeiten einer neuen Aufklärung zu umreißen.
Bildung und Aufklärung
Bei der Beantwortung der Frage, was aufklären heißt, betonte Moses Mendelssohn 1784. „Je mehr der gesellige Zustand eines Volkes durch Kunst und Fleiß mit der Bestimmung des Menschen in Harmonie gebracht worden; desto mehr Bildung hat dieses Volk“ (1994, 129). Bildung zerfalle dabei in Kultur und Aufklärung. Kultur gehe auf das Praktische, auf Fertigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit als Grundlage für Güte, Feinheit und Schönheit in Handwerken und Künsten, auf Neigungen, Triebe, Gewohnheiten in Geselligkeitssitten.
Die Aufklärung beziehe sich auf das Theoretische, auf vernünftige Erkenntnis und die Fertigkeit zum vernünftigen Nachdenken über menschliches Leben und die Bestimmung des Menschen. Individuen brauchen unterschiedliche Aufklärung als Menschen und als Bürger, denn letztere modifiziere sich nach Stand und Beruf. Volksaufklärung habe die Masse der Erkenntnisse, deren Bedeutung für Mensch und Bürger, die Verbreitung durch alle Stände und Forderungen des Berufs zu bestimmen. Mendelssohn hebt hervor: „Menschenaufklärung kann mit Bürgeraufklärung in Streit kommen. Gewisse Wahrheiten, die dem Menschen, als Mensch, nützlich sind, können ihm als Bürger zuweilen schaden“ (1994, 130).
Ohne die Ausführungen von Mendelssohn schon zu kennen, hatte Immanuel Kant 1784 als Wahlspruch der Aufklärung zugespitzt formuliert: Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Faulheit und Feigheit sah er als Ursachen, warum Menschen in der selbstverschuldeten Unmündigkeit blieben, aus der sie die Aufklärung befreien solle (1994, 55). Doch auch Kant
unterscheidet zwischen dem Gelehrten, der frei räsonieren könne und dem Bürger, der seinen Posten oder sein Amt ausfülle und deshalb der Obrigkeit zu gehorchen habe. Seine Freiheit sei eingeschränkt. Die Frage, ob er in einem aufgeklärten Zeitalter lebe, verneinte Kant, da es noch sehr daran fehle, dass Menschen sich in Religionsdingen des eigenen Verstandes ohne Leitung
eines anderen sicher und gut bedienen könnten. So betonte er vor allem die Möglichkeiten im Zeitalter der Aufklärung, die das Feld öffnen und die Hindernisse allmählich weniger werden lassen.
Die klassische Aufklärung wollte Licht in das Dunkel der Unwissenheit bringen, mystische Vorstellungen über die Welt und die Menschen entzaubern, Illusionen über das wirkliche Geschehen aufheben und Religionsfreiheit durchsetzen. Das war auch für die Aufklärer nicht leicht. Im königlichen Rescript vom 1.10.1794 wird Kant von Friedrich Wilhelm II. großes Missfallen
ausgedrückt, da er seine Philosophie zur Herabsetzung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums missbrauche. Er habe „bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehme Verfügungen zu gewärtigen“ (Kant 1907/17, 6). In seiner Antwort betonte Kant, er habe sich als bloßer Philosoph nie in die Beurteilung der Bibel und des Christentums eingemischt und ergänzte, dass ihm „der Fehler aber, über die Grenzen einer vorhandenen Wissenschaft auszuschweifen, oder sie ineinander laufen zu lassen, mir, der ich ihn jederzeit gerügt und dawider gewarnt habe, am wenigsten wird vorgeworfen werden können“ (1907/17, 7). Er habe sich nicht gegen bekannte landesväterliche Absichten vergangen oder gar der öffentlichen Landesreligion geschadet. So hat jede Bildung kritische und apologetische Auswirkungen. Gebildete untersuchen, ob humane Ideale und Wirklichkeit zusammenfallen können. Im Glauben daran unterstützen sie bestehende Zustände, doch zugleich mahnen sie Veränderungen im Hinblick auf eine effektivere und humanere Gestaltung der natürlichen, sozialen und mentalen Umwelt an.
Claudio Martelli, führender Politiker der Sozialistischen Partei Italiens, hebt die christliche Tradition der Aufklärung in der Diskussion zwischen dem Kardinal Martini und dem Schriftsteller Umberto Eco um christliche oder weltliche Ethik zum Thema “Woran glaubt, wer nicht glaubt?“ hervor. Er meint: „Aber die Aufklärung ist nichts prinzipiell ,anderes’ als das Christentum.
... Das Angriffsziel der Aufklärer ist die Ignoranz, denn die Ignoranz, besonders die an der Macht, ist eine permanente Bedrohung für die Menschheit. Die Aufklärer verfolgen ein politisches Ziel mit den Waffen der intellektuellen Kritik: ein gewisses Maß an größerer Freiheit, größere Toleranz der Meinungen und der Rechte aller, wirtschaftliche und juridische Reformen,
Skrupel, Effizienz, Gerechtigkeit“ (2000, 129f.). Für ihn ist christliche Ethik Liebe, die als Intuition des Herzens nicht bewiesen sondern in Taten bezeugt sein will. Das weltliche Credo des christlichen Humanismus sei die Ethik der Toleranz und des Kompromisses. Doch als guter christlicher Aufklärer entdeckt er hinter den Werten die Mächte. Er fordert ein Abgehen von den nicht verhandelbaren, aus absoluten Prinzipien abgeleiteten Werten, und stellt die Aufgabe: „aus der Interaktion zwischen den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen und dem menschlichen Bewußtsein das System der Werte abzuleiten, die Ordnung der Prioritäten, die diesen Werten zuzuweisen sind. sowie eine permanente Anpassung und Verfeinerung“ (Martelli 2000, 141).
Wenn wir deshalb für eine neue Aufklärung eine Wertehierarchie unter den derzeitigen Bedingungen aufbauen, dann scheint mir an der Spitze die Erhaltung der menschlichen Gattung und ihrer natürlichen Lebensbedingungen im Frieden bei einer gesellschaftlichem Entwicklung zu stehen, die auf Freiheitsgewinn aller Glieder der Gesellschaft gerichtet ist, also in der Bildung vor allem die Individualität berücksichtigt. Dazu können Humankriterien aus dem Wesen der Menschen und den gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt werden (Hörz 1994, 224ff.). Aufklärung als Teil der Bildung muss sich so mit den zu vermittelnden Bildungsinhalten, eben dem Weltwissen, und den humanen Werten befassen, da sich aus dem Wissen nicht einfach schon gesellschaftliche Werte ergeben. Sie sind Bedeutungsrelationen von Sachverhalten für das Individuum, die Nützlichkeit, Sittlichkeit und Schönheit umfassen. Diese Aspekte werden unter konkret-historischen Bedingungen immer neu durch Tradition, Lebensweise und Zukunftsvisionen geprägt. Darauf aufbauende Normen sind Wertmaßstab und Verhaltensregulator.
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