Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages

Anna Mudry 

Brooklyn • Berlin. Eine Geschichte vom Warten

Roman, trafo verlag 2004, 200 S., ISBN (10) 3-89626-484-2, ISBN (13) 978-3-89626-484-2, 12,80 EUR

 => Lieferanfrage

REZENSIONEN

Das Buch

Spurlos ist Ben, Amerikaner jüdischer Herkunft, aus Lydias Leben verschwunden. Jahrelang wartet die (Ost)Berlinerin auf ein Zeichen von ihm. Der Fall der Mauer weckt in ihr neue Hoffnungen auf die Rückkehr ihrer Jugendliebe. Aber Lydia stellt sich auch bohrende Fragen. Sie will herausfinden, warum nach einer kurzen und konfliktreichen Liebe ihre Bindung an den "Reisenden in Sachen Revolution" so anhaltend bleiben konnte. Lydias Selbstbefragungen verbinden sich mit Spurensuche im zweigeteilten und wiedervereinten Berlin, in New York, in Warschau und einer benachbarten, einst polnisch-jüdischen Kleinstadt. Wie in Momentaufnahmen tauchen in den Strudel dramatischer Geschehnisse hineingerissen Menschen auf. Schritt um Schritt nähert sich Lydia, einem Ben gegebenen Versprechen treu, der Erklärung ihres Wartens.

 

 

Leseprobe

Abschied

Lydia sieht sich die Treppe des steingrauen Hauses, in dem die geheimen Akten aufbewahrt werden, hinaufsteigen. Von Etage zu Etage verlangsamen sich ihre Schritte. Endlich erreicht sie das ihr bezeichnete Zimmer. Niemand antwortet jedoch auf ihr Klopfen. Die Tür bleibt auch verschlossen, als sie an der Türklinke rüttelt.

Ihre Ungeduld, mit der sie so lange gewartet hat, die Wahrheit herauszufinden, fällt unversehens in sich zusammen. Sie atmet erleichtert auf und wendet sich zum Gehen, um irgendwann wiederzukommen.

Beim nächsten Mal klingelt sie zur genau vorgegebenen Stunde an einer numerierten Tür. Sie betritt einen weitläufigen Raum. Dort stapeln sich bis zur Decke mit rätselhaften Zeichen bedeckte Schriftstücke. Lydia hält Ausschau nach einem Menschen. Sie ruft. Aber niemand kommt ihr zu Hilfe. Da begreift sie, daß sie es alleine mit den Aktenbergen aufnehmen muß, um das Wort zu finden, das ihr Gewißheit über Ben verschafft. Sie streckt die rechte Hand nach einem der Schriftstücke aus.

Doch ein lähmender Schmerz im Arm reißt sie aus ihrem Alptraum.

"Ich muß mir noch Zeit lassen", denkt Lydia.

Im Grunde ihres Herzens aber weiß sie, was sie daran hindert, tatsächlich auch nur einen Fuß in jenes Haus zu setzen, wo sie erfahren könnte, warum Ben plötzlich und spurlos aus ihrem Leben verschwunden war. Sie hat Angst, beim Öffnen der Akte auf dem einzigen gemeinsamen Foto seinem ins Unbestimmte gerichteten Blick wiederzubegegnen, und sich selbst, den Kopf an seine Schulter gelehnt.

Ben hatte Lydia vorgeschlagen, zusammen zu einem Fotografen zu gehen. Seine Mutter in Brooklyn sollte sich endlich ein Bild von seiner Freundin aus Ost-Berlin machen. "Von meinem Apfelgesicht", hatte er mit seinem amerikanischen Akzent hinzugefügt.

Lydia sah fragend zu ihm auf, weil er nur selten und manchmal auch abweisend von seinen Eltern gesprochen hatte. Sein zärtlich auf ihr ruhender Blick aber schien zu bestätigen, was sie sich erhoffte. Er wollte versuchen, das Eis zwischen seiner Mutter und der deutschen Nichtjüdin, der Schickse, zu brechen.

Lydia ging zum Friseur, ließ sich das Haar kräuseln und zog ihr schönstes Kleid an. Sie wandte, bevor der Fotograf auf den Auslöser drückte, Ben ihr Gesicht zu und lächelte. Die Kamera aber hielt mit dem Lächeln einen Schimmer Zaghaftigkeit in ihren Augen fest.

Auf die Rückseite des schwarzweißen Fotos hatte Ben mit seinen nach links kippenden Buchstaben geschrieben: "Dein Ben, für immer."

Monate waren zwischen dem Besuch beim Fotografen und dem Tag vergangen, an dem Ben blass mit verstörten Augen vor Lydias Wohnung erschien. Bevor er ein Wort sagte, spürte sie, wie die Kälte der Wand, an der sie lehnte, ihren Rücken hinaufkroch und sich um ihren Brustkorb legte. "Ich muss sofort abreisen", sagte er.

 

Die Sarazenin

Der kürzeste Weg zur Bibliothek führt Lydia über den dicht bebauten Platz, in dessen Mitte sich Straßenbahnschienen kreuzen. Wegen des bevorstehenden Examens hat sie es eilig und wirft deshalb nur einen flüchtigen, fast gleichmütigen Blick auf das zwischen einem Lebensmittelladen und einem Blumenkiosk eingezwängte kleine Atelier, in dem das Foto mit Ben entstand. Entlang der Mauer des historischen Militärfriedhofs steuert sie auf eine behelfsmäßige Brücke zu. Aber sie folgt nach Überqueren der Brücke nicht wie gewohnt der nächsten Straßenbiegung, sondern geht geradeaus weiter, macht in einer Nebenstraße kehrt und findet sich schließlich vor einem Schalter des S-Bahnhofs wieder.

Hastige Hände schieben der jungen Fahrkartenverkäuferin hinter der gläsernen Trennwand über eine abgewetzte Folie Münzen oder Geldscheine hin. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen gleiten dann bedruckte Kärtchen aus bräunlicher Pappe durch die Öffnung unterhalb der Scheibe zu den Kunden.

Lydia tastet den Boden ihrer Jackentasche ab. Ein Geldstück aus Aluminium hat sich in die breite Naht hineingebohrt. Sie braucht nur Daumen, Zeige- und Mittelfinger zu krümmen, die Hand aus der Tasche zu ziehen, sich in die kurze Schlange vor dem Schalter einzureihen, ihre Hand mit der Münze auszustrecken und mit den restlichen Pfennigen die Fahrkarte entgegenzunehmen, mit der sie in den amerikanischen, englischen oder französischen Sektor fahren kann.

Die Collegemappe zwanglos auf dem Schoß oder einem freien Sitz neben sich, braucht sie nur selbstbeherrscht genug zu sein, um geflissentlich aus dem S-Bahn-Fenster zu schauen, wenn die Grenzpolizisten vor dem über Lautsprecher verkündeten Verlassen des "Demokratischen Sektors" den Fahrgästen prüfend ins Gesicht sehen oder das Gepäck derjenigen, die ihnen verdächtig erscheinen, kontrollieren oder sie sogar auffordern, den Waggon zu verlassen und ihnen zu folgen.

Von einem dieser Polizisten befragt, könnte Lydia den Namen eines (nicht existierenden) Verwandten in Kreuzberg, den sie angeblich besuchen möchte, nennen.

Nach Passieren der Sektorengrenze würde sie auf der ersten Station in Westberlin aussteigen, um den Weg in das Aufnahmelager für Flüchtlinge zu erfragen. Dort würde sie sich in eine Schlange wartender Menschen einreihen, manche wie sie nur mit dem versehen, was sie am Leibe tragen, oder mit Koffern, Bündeln und Kindern, die erwartungsvoll oder müde neben den Habseligkeiten hocken, manche verstört wie das kleine Mädchen Lydia, als sie auf der Flucht beim gellenden Pfiff der einfahrenden Lokomotive von der Seite der Mutter gerissen worden war und ihr hilfloser Blick nur leeren, starr auf ein Ziel gerichteten Augen begegnete.

 

* * *