Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages

Bernd Ulbrich

Flam oder Diesseits und Jenseits

Roman, trafo verlag 2005, 518 S., ISBN (10) 3-89626-477-X, ISBN (13) 3-89626-477-0, 26,80 EUR

 => Lieferanfrage

Rezensionen

Zum Inhalt

 

Obwohl es anfangs nicht so aussieht – es ist dies die Geschichte zweier Gewinner. Für die Liebe wird allerdings das Opfer eines Lebens erbracht werden. ‘Diesseits und Jenseits’ heißt: das literarische Spiel zwischen Profanem und Transzendentem, zwischen dem Jetzt und der Geschichte, nicht zuletzt das zwischen Ost und West. Gegenstand des Romans ist (nebst teils tragischen, teils grotesken Schicksalen in den politischen sowie gesellschaftlichen Verwerfungen der Zeit) die Geschichte der Freunde Hubert Flamberger, alias Jean-Louis Flamery, Marquis de Charonne, später genannt Flam und des DDR-Dramatikers Robert Iks (beide ca. Mitte 30) in den Jahren von 1985 bis 1992. Die Handlung spielt in Berlin, episodenhaft in Italien, in der fiktiven ostdeutschen Stadt Bad Schweinhall und noch in einem kleinen thüringischen Dorf. Dritte Hauptfigur ist Louise Osch, Schauspielerin in Bad Schweinhall und Roberts große, verlorengeglaubte Liebe.

Der Roman ist nicht chronologisch aufgebaut. Er beginnt im Moment des Mauerfalls, der – durch einen unbedachten Wunsch Roberts und Flams an das ‘Höchste Wesen’ 1986 im Alkoholrausch in einer Ostberliner Kneipe geäußert – drei Jahre später ausgelöst wird, setzt sich fort bis zur denkwürdigen Italienreise Roberts und Flams 1990, während der beide mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden. Anschließend wird die Handlung zurückgeführt an ihren Beginn 1985, da sich Dr. Flamberger, Roberts Dramaturg und IM, sowie er selbst an einem düsteren Oktoberabend auf der – tragisch endenden – Autofahrt von der Hauptstadt der DDR nach der fiktiven ostdeutschen Stadt Bad Schweinhall befinden.

Nach dem Unfall (Robert rettet Flamberger das Leben) liegen beide im selben Krankenzimmer. Doch Letzterer ist nach Reanimation nicht mehr der alte. Vielmehr erwacht durch ‘göttliches Versehen’ im Körper des Spitzels zu neuem Leben, Monsieur le Marquis, bürgerlich geboren erstmals 1755 im Elsaß, seiner Verdienste um Frankreich und die Krone wegen später in den Adelsstand erhoben. Erst Gegner, dann Befürworter der Revolution von 1789, schließlich Feind der neuen Macht, ist er es, der den General Buonaparte, während dessen italienischer Mission 1794 zu seiner späteren historischen Rolle inspiriert. Verrat bringt ihn auf die Guillotine. 1985 beginnt er (wegen besagtem ‘göttlichem Versehen’) sein zweites Dasein und ist als Wiedergutmachung für die erneute irdische Mühsal mit drei Wünschen täglich (Erfüllung nie gewiß) ausgestattet.

Das Begreifen Flams neuer Identität fällt beiden Rekonvaleszenten schwer. Aber auch für Robert bricht im Krankenhaus ein neuer Lebensabschnitt als Freund des Wiedergeborenen und als große Liebe der Louise Osch an. Die wurde allerdings – durch Dr. Flambergers Kenntnis ihrer Fluchtabsichten (ob die beiden ehemals ein Verhältnis hatten, bleibt offen) – vom Stasioffizier Hartlieb Struwe auf Robert angesetzt, verweigert indessen nunmehr den Gehorsam wie der neue Flamberger auch.

Während sie, vom ahnungslosen Robert schwanger, vor der Stasi Zuflucht bei ihrer Familie im Thüringischen sucht, wird Flam durch ‘göttliche’ Nachhilfe seines Spitzeldienstes ledig und kann in die Nähe seines Freundes Robert nach Berlin umziehen. Dort nimmt er bis zum Mauerfall als Spezialist für die Französische Revolution eine Tätigkeit im „Institut für kommunistische Zukunftsforschung“ auf.

1989 erleben sie aus nächster Nähe den Mauerfall, erleiden am eigenen Leibe die Verwerfungen des ‘Anschlusses’ und fahren (vorerst als Verlierer desselben) – gemäß dem Motto: die Letzten werden die Ersten sein – nach Italien. Dort begegnet Robert Johannes Münzpeter, Pförtner am Westberliner Dreisparten-Goethe-Theater, daselbst die graue Eminenz. Denn der ehemalige ZK-Mitarbeiter und Mitglied des ZK, hatte zu DDR-Zeiten ehrgeizige Ambitionen, pokerte zu hoch, fiel tief, versuchte in den Westen zu fliehen, wurde erwischt, und schließlich als „Maulwurf“ in den Westen entlassen. Der Arm der Stasi ist lang und so zittern Politiker, Wirtschaftsbosse und Kulturmanager vor der Macht des unbekannten Pförtners.

In Umkehrung der Logik lastet der seinen Abstieg Robert an, den er einstmals als Marionette in seinem Machtpoker zu mißbrauchen suchte und der unwissentlich nicht mitspielte. Um späte Rache, wird er Robert einen Job am Westberliner Theater verschaffen und mit seinem neuerlichen Intrigenspiel fast Erfolg haben.

Noch ein anderer war rachebesessen. Kurz vor dem Fall der Mauer erfährt Struwe, inzwischen Oberst, daß Louise ihn gelinkt hat. In krankhaftem Haß auf diese Liebe läßt er sie in den Westen verschleppen. Von da versucht sie einen Grenzdurchbruch zurück zu ihrem Kind und wird lebensgefährlich angeschossen. Die Maueröffnung verbringt sie im Koma in einer Westberliner Klinik.

Am Ende wird fast allen Gerechtigkeit. Der intrigante Regisseur an der Goethe-Bühne, Bartnick, wird als Agent enttarnt. Münzpeter wird endlich des Mordes am Vater in Italien überführt. Der rückratlose Generalintendant des Westberliner Goethe-Theaters Karlemann wird vom Geliebten seiner Frau verprügelt. Der betrügerische Wahrsager Dr. Oxanos Khalimanputra kommt wegen Steuerhinterziehung dran. Der Excharakterdarsteller am Ostberliner Meyerhold-Theater, Winston Kramer (Sir Winston) ehelicht die kleine Hure Pia und erhält – nach tiefster Erniedrigung – endlich eine Hauptrolle in Hollywood. Louise wird gesund und findet Robert wieder. Nur Flam muß als Opfer dargebracht werden. Er wird in einem späten Racheakt von Struwe an Roberts Stelle just in dem Moment erschossen, da er und seine Sekretärin Ornella sich endlich zu ihrer Liebe bekannten. Struwe, eine gescheiterte Figur, begeht Selbstmord. Obsiegt hat die Liebe, wenn auch unter Opfern, und nicht alle, die es verdient hätten, müssen büßen.

 

Leseprobe

Erschütterungen deuteten sich an im Ostteil der Stadt in jenem Spätherbst 1989. Das Volk suchte Zuflucht bei Beschwörungsformeln. Zutiefst von seinen Mythen enttäuscht, fand es Halt schließlich in Gerüchten. Wechselseitig schufen sie Illusionen, die das jeweils andere Lager wieder aufzuheben suchte. Hin und her geworfen zwischen den Extremen, fand die Menge auf der Straße Trost in den Parolen wirrer Geister. Kolportage ließ die Herzen höher schlagen. Die der einen aus verständlicher Angst, die der anderen in stillem Hoffnungsrausch.

›Nun wird sich alles, alles wenden‹. Die ostdeutschen Dichter zitierten ihre Vordenker. Das war immerhin eine großartige, wenn auch zu nichts verpflichtende Leistung. Ein fiebriges Erwachen wie nach langer, langer Krankheit kündigte sich darin ja erst an. Das ungläubige Erstaunen des soeben noch in Agonie Liegenden zeichnete das Antlitz des lebenden Leichnams in vielfältiger Schattierung. Nie trat das Menschliche in diesem kalten Volk der Deutschen – wenn auch nur punktuell! – schöner und prägnanter zutage als in solch seltenem Augenblick der Geschichte seines Leidens wie des noch selteneren seines Triumphs. Allein das dumpfe Mittelmaß – unfähig zur Begeisterung wie zur schauerlichen Zukunftsvision – verharrte träge abwartend am Rande des Tumults und flüsterte sich tölpelhaft grinsend eben jene Ondits verantwortungsloser Urheber ins Ohr, die geeignet erscheinen, das Volk zu verwirren, seinen Willen zu spalten, seine Kraft zu lähmen.

Die einen riefen die Weltrevolution aus: Nach Gorbatschows Sturz würden die Sowjets Westberlin im Handstreich nehmen und in einem Zuge bis Paris durchbrechen. Die anderen behaupteten – in gegenrevolutionärer Eitelkeit und vorgeblich zersetzend – die Offensive würde in Westberliner Bordells hängen bleiben. Trotz und Bitternis zeichneten die Miene der Menschen. Denn eigentlich war selbst dem Unvernünftigsten klar, um Mushiks aus dem Puff zu treiben, würde der Westen so wenig einen Krieg riskieren wie um die Freiheit anderer. Das war nun das Fazit viertausendjähriger Kultur des Abendlandes, und wie immer kündigte sich die tiefe Spaltung in Gewinner und Verlierer frühzeitig an. Jene setzten sich aus der unmittelbaren Gefahrenzone ab in die zweite Reihe, während Letztere mit naivem Stolz, unverdient und durch die Umstände halb gezwungen, ihre Rolle annahmen. Avantgarde! Mit derselben Naivität, doch ohne Stolz würden sie sich später fragen: Warum gerade ich? Die unbefriedigende Antwort könnte lauten, weil jede Revolution ihre Märtyrer braucht. Ohne Opfer ist nun mal kein Fortschritt zu haben. Traurig, sagen sich zu Recht die Verlierer. Gesetzmäßig, verkünden arrogant die Gewinner. Vorerst jedoch sah es so aus, als ballten diese wie jene Betrogenen die Faust in der Tasche, und ihren skandierten Ruf konnte man als Schrei nach den Menschenrechten deuten. Auf den Straßen der DDR-Hauptstadt marschierte offensichtlich die Empörung.

»La vie! La revolution«, flüsterte Flam mit verhaltener Begeisterung, sodann nach einem tiefen Atemzug, der seine widersprüchlichen Empfindungen ein wenig auszugleichen schien: »Une petite revolution! Une revolution propre.« Und mit hochgezogenen Brauen, was seine aristokratische Herkunft, als auch die des Geistes unterstrich: »Aber immerhin.«

»Willst du wohl dein vorlautes Maul halten, Monsieur le Marquis«, zischte ihm Robert – gleichermaßen verschwörerisch wie auch im Spott übertreibend – zu, indem er den ungeliebten Spitznamen des Freundes benutzte. Er wies über die wogende, drängende Menge an der Bornholmer, Ecke Schönhauser in Ostberlin nahe der Grenze. »Wer diesen aufgebrachten Mob verhöhnt, könnte schnell am nächsten Laternenpfahl enden.«

Doch Flam schüttelte eigensinnig den borstig rotbehaarten Schädel. »Das weiß ich besser. Dieses Volk hängt keinen. Nicht dieses Volk.« Andeutungsweise neigte er den Kopf, sog, als wäre er leidend oder trüge an einer schweren Bürde, einen Schwall Luft durch die Nase und fügte mit einem Anflug heiterer Aversion hinzu: »Höchstens auf Befehl.« Mit seinem Lächeln wirkte er indessen wie ein Standbild ewiger Erhabenheit.

Doch unsicher wie er diese in sich widersprüchliche Äußerung und Gestik zu bewerten habe, schwieg der Belehrte für einen Augenblick. Lag Hochachtung in den Worten des Freundes oder Verachtung? Er kannte diesen filou gut genug, und beides wäre angesichts dessen unglaublicher Geschichte sowie der dieses Volks denkbar und immer noch entweder gerecht oder eben ein Irrtum.

»Sei nicht so verdammt zweideutig«, murrte Robert mit der Absicht zu provozieren. »Deine historische Erfahrung gibt dir noch lange nicht das Recht, dich über die Lebenden zu mokieren, wenngleich ich zugeben muß, daß dieses Volk in Sachen Revolution niemals etwas Rechtes zustande gebracht hat.«

»Ich mokiere mich nicht«, erwiderte Flam mit der unerschütterlichen Ruhe dessen, der sich weise nennen darf, denn er hat – dem Dichterwort entsprechend – das Dunkel gesehen. »Aber du, der ingeniöse Dramatiker solltest dich nicht als Focus eines tiefsitzenden nationalen Komplexes empfinden. Glaube an deine Kraft und an die der Liebe!«

»Ich habe doch nur Angst um dich!« verteidigte sich Robert mit erhobener, gleichwohl kleinlauter Stimme. »Du hast dich schon einmal um Kopf und Kragen geredet.«

»Geredet? Voila! Ich handelte.« Anspruch wie Vorwurf kommentierte der Freund mit einer großherzigen Geste der Gelassenheit und der Überlegenheit wie sie nur ein Angehöriger der Grande Nation hervorzubringen versteht. Er war darin so meisterhaft überzeugend, daß einige der Umstehenden, der Drängenden wie der Zögernden ohne tieferes Wissen noch Erkenntnis zu ihm aufblickten als erscheine ihnen in seiner Person ihr künftiger Führer.

Der streckte messianisch die Arme ihnen entgegen und rief wie zur Untermauerung seiner Position aus: »Nur ein Kleingläubiger empfindet angesichts notwendiger Opfer Furcht!« Und nicht wie eine Floskel, sondern als Kampfesruf und Fanal inmitten des Gewoges fügte er, übertönend die eigene Erinnerung an sein tragisches Geschick sowie äußerst gegenwärtiges tausendfältiges Geschurre und Gemurre, Rufe, Schreie, Rascheln, Flüstern, noch hinzu:. »C’est la vive vrai!«

Die unverständlichen Worte ernüchterten die Hoffenden. Einen Intellektuellen konnten sie nicht gebrauchen. Sie wußten zwar nichts von deren Irrtümern, jedoch instinktiv mißtrauten sie der scheinbaren Überlegenheit des Geistes, genau so wie es damals, 1789, die groben Weiber von Paris oder Louis XVI. Capet auf ihre Weise getan hatten. In dieser Hinsicht schuf der verwöhnte Magen keinen Unterschied zum leeren, das Gestern nicht zum Heute. Allein das bittere Gedenken schor alles über einen Kamm.

In seltner Einheit mit der Masse, wie auch im Gegensatz zum Freund mochte Robert sich dessen Euphorie nicht anschließen. Vor allem sah er den Kontrollverlust der Wirklichkeit. Begeisterung, auch Leidenschaft, kein Zweifel! Doch was im Entwurf, in der Kunst, funktionierte, stellte sich auf der Straße sehr viel komplizierter dar. Am theoretischen Konstrukt erblühte seine Phantasie, wucherte in den unendlichen Raum menschlicher Möglichkeit. Bedeuteten die Bretter des Theaters nicht weit mehr als die der Welt? Fand nicht auf der Bühne das wahre Leben statt? Hier bin ich Gott, hier darf ich’s sein! Mit dem Scheitern seiner Figuren litt er unendlich mit, wie in deren Triumph. Was ihn nicht davor bewahrte, selbst zu leiden an der Liebe, leidend noch zu triumphieren in der Kunst. Aber schließlich hatte er sich, wenn auch Schöpfer, den Gesetzen der Dramatik und der Politik zu beugen. Wenn auch mit Protest gegen diese ungewisse Wirklichkeit. Auf seine Schöpfungen war, rein künstlerisch, Verlaß, auf ihren Autor weniger, wenn man den Berichten Glauben schenken wollte. Auf wen hingegen sollte er sich hier und jetzt verlassen, auf das Höchste Wesen, auf das Volk, auf niedere oder höhere Instinkte, gar auf die Vernunft? Aus der Vielzahl der möglichen Antworten wählte er daher die aus, die ihm am nächstliegenden und vor allem am hilfreichsten erschien, um den Freund auf den Boden der Realität zurückzuholen.

»Natürlich, Opfer sind nötig. Aber sie sollen, bitteschön, von denen erbracht werden, die mit ihrer Halbherzigkeit, mit ihrem mediokren Anspruch und mit ihrer zivilen Feigheit für diesen Zustand verantwortlich sind. Wir haben das Unsere geleistet.« Ihm war bewußt, daß er damit eine alte Wunde aufriß. Denn seit er Flam kannte, quälten diesen Selbstvorwürfe und Spekulationen hinsichtlich seiner eigenen Rolle im historischen Geschehen und in der Liebe auch. Hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen, wenn er dazumal…, wenn er nicht…, wenn er doch… oder früher oder später? Der König und auch Marie-Antoinette hatten nicht auf ihren Ratgeber gehört. Aber hätten Sie, wenn er… oder wenn er nicht…? Und dann noch dieser General Buonaparte. Den die Historie allein deshalb als Kaiser in Erinnerung behalten hatte, weil ein nicht geschichtsnotorischer Insurgent namens Jean-Louis Flamery, Marquis de Charonne seinerzeit 1794 – zu früh, zu spät? – in geheimer Mission, die ihn bald darauf um seinen Kopf gebrach hatte, zum Oberbefehlshaber der Artillerie nach Italien gereist war. Wenn die Zeit reif ist, befreit sie den verantwortlich Denkenden von jeglicher Verpflichtung. Diese radikale Einsicht wollte Robert dem Freund, jetzt, da es hieß, klaren Kopf zu bewahren, jetzt, da jeder Einzelne aufgerufen war, sentimentalem Revoluzzertum die denkende Stirn zu bieten, nicht ersparen. Die Dialektik der Geschichte …

»Ja, die Dialektik der Geschichte«, betonte Flam. »Genau das ist es. In einem Atemzuge wird zerstört und neu erschaffen, guillotiniert und wiedergeboren. Leid und Euphorie vereinen sich zu einem universalen Empfinden, und noch in der Niederlage steckt Triumph. Im Schmerz verbirgt sich Schönheit. Im Unrecht wird das Recht geboren! Vive la revolucion!« rief er emphatisch aus.

Das war er wieder der Freund, wie er ihn verehrte und liebte, Bildnis eines Helden, Mensch, der keine Lüge, kein Falsch erlaubte. Woher nahm er die Kraft? Die Frage war rhetorisch. Er wußte die Antwort, glaubte sie zu kennen, da nur eine einzige zulässig, denkbar, gerecht erschien. Bescheidenheit. Am Maß der Dinge sich selbst relativieren.

Bis auf läßliche Ausnahmen war Flam jede irdische Eitelkeit fremd. Er anerkannte nur eine Autorität, die der bedingungslosen, aufopfernden Liebe, und Robert glaubte ihm, daß er schon immer so gelebt habe, selbst damals, bevor ihm jenes seltsame Geschick widerfahren war, das sie beide schließlich in Freundschaft zusammenführte. Beneidete er ihn insgeheim um diese Größe? Innerlich seufzte er ein bißchen und war doch froh, daß das Schicksal – jetzt ließ er den Begriff zu – ihn als Menschen und als Dramatiker mit jenen kleinen Schwächen ausgestattet hatte, die letzten Endes seinen Figuren auf der Bühne zugute kamen. An den Liebenden dachte er nicht, obwohl sein Scheitern ihn erschüttert hatte bis ins Mark. War er gescheitert? Die Frage mußte ohne Antwort bleiben. Hatte er nicht mit der Erfahrung seiner ersten wahren Liebe in sich die zur Welt entdeckt? Das Publikum hatte ihn seinerzeit dafür belohnt, die selbsternannte Partei der Arbeiterklasse nicht. Doch auch das Verständnis des gemeinen Menschen für Widersprüche schien im wirklichen Leben seine Grenzen zu finden.

Die Statisten der Geschichte folgten einer eigenen, gänzlich unkünstlerischen Dramaturgie; ihr Charakter war unberechenbar. Sie gehorchten allein einem kurzgeschlossenen Impuls, der auf Reizmerkmale reagierte, und der sich allein legitimierte aus dem Zwang zu handeln, folgte dem nur teilweise akzeptablen Egoismus des Sein oder Nichtsein. In einer solchen Zuspitzung genügt ein Wort als Funke oder ein anderes als erstickendes Agenz. Dem Einzelnen war ja nicht bewußt, daß Irrtümer mehr Geschichte gemacht haben als die Wahrheit. Daher bewirkten sie, die Irrenden, die Wirrenden letzen Endes Bewegung, den Fortschritt. Nun ja, Fortschritt, welch ein Wort.

Die Farbe Rot war jenen Synonym für Unrecht. Was sollten sie mit der Dialektik des Begriffs anfangen, jetzt, da es zu handeln galt und Bedenken, welche deutsche Tugend!, endlich über Bord zu werfen waren? Rot! Das Wort allein besaß millionenfaches Echo; assoziierte Bilder von Knechtschaft und Entmündigung. Die Farbe von Flams Haarschopf löste den Reflex aus, der das WORT als roten Terror übersetzte. Der alte Feind, das alte Unrecht, war nicht greifbar. Tausendfache Frustration kehrte sich gegen das bedrohlich Fremde, verkörpert in der Person eines Menschen, der nach Habit und Gebärde ihnen unverständlich schien.

Ein dürres Subjekt mit Windhundsschädel und tiefliegenden Leichenaugen, das alle anderen überragte, erinnerte sich, daß Flam französisch gesprochen habe. Ein durch und durch unauffälliger Demonstrant wiederum interpretierte mit zitternden Wangen das als Tarnung eines Stasi-Spitzels. Denn wo sollte hier ein Franzose herkommen? Eine Frau von hurenhaftem Geblüt wollte in Flams Gesicht gar typische Züge des IM – ein Begriff, der damals noch kaum bekannt war und der doch irgendwie destruktiv wirkte – identifizieren. Wenn sie geahnt hätte, wie nah und wie fern zugleich der Wahrheit sie war.

»A la lanterne, a la lanterne!« intonierte, auf- und niederhüpfend wie ein Gummiball und nicht ohne theatralisches Talent, ein kühner Schreihals mit nietzscheschem Schnauzbart und dessen durchdringendem Blick, das längst vergessene Lied aus den Tagen der Französischen Revolution. Es mußte sich immerhin um einen gebildeten Menschen handeln, denn soweit reichte die Erinnerung des einfachen Bürgers keinesfalls zurück. Niemand verstand die Worte des anarchistischen Propagandisten. Doch Ton und Gestus benötigten keine Interpretation. Nun erbleichte Flam. Denn er verstand die Aufforderung und erinnerte sich. Für Sekunden gelang es ihm nicht, ein Zittern zu unterdrücken. Dann hatte er seine Haltung wiedergefunden. Indessen der kurze Moment der Schwäche galt den Wütendsten unter den Umstehenden bereits als Schuldeingeständnis. Man schloß die Reihen fest. Fahnen hatte man keine dabei. Flam verstand. Er überblickte diese kleine Insel des Hasses inmitten der Brandung aus Unentschlossenheit: vor, zurück, auf und nieder, Raunen, Rauschen, Tosen. Hatte die Vergangenheit ihn nun doch eingeholt? Wiederholte sich nicht im gleichen häßlichen Gewand, der alles einstampfenden, rücksichtslosen Gleichmacherei, der blinden Hetzjagd auf Schuldige, ein immer nämlicher Mechanismus! La revolucion, la vive? Der Fortschritt verlangte Opfer. Noch zögernd, doch bereits lüstern drängte die Menge gegen sie an. Das Unbekannte, das sie hinderte zu toben, manifestierte sich in diesem Augenblick allein in der Würde eines Einzelnen.

Robert, als Dramatiker geschult in szenischen Zuspitzungen, erkannte die Gefahr und verfügte gleichermaßen über die Mittel, sie zu brechen. In einer Pose, die in ihrer theatralischen Bescheidenheit großartig wirkte – eine Mischung aus Gründgens und Hans Albers – trat er vor und rief aus:

»Im Namen der Liebe, der leidenschaftlichen, der aufopfernden, der wahren Liebe!«

Einige der Umstehenden lächelten unsicher. Andere senkten verlegen den Blick, als suchten sie etwas Verlorengegangenes. Eine knochige, gleichwohl nicht unschöne Frau sagte: »Ach, die sind bloß schwul.« Was weitere Konfusion auslöste. Wie sollte man nun damit umgehen? War das Fremde in dieser Form bedrohlich? Zweifel malte sich in manch einer schon enthemmten Miene. Die durchschnittliche Attraktivität der Frau wirkte indessen verbindend und gab ihrer emotionslosen Bemerkung eine Glaubwürdigkeit fernab von Gehässigkeit auf der einen und ideologisierendem Gutmenschentum auf der anderen Seite. Schwul, na ja, warum nicht! Sind ja irgendwie doch Menschen, wenn auch ein bißchen schweinisch mit ihrer Arschfickerei. Die wacheren Geister unter den Umstehenden erkannten den Aspekt der Randgruppe. Schwule waren selten rot, eher verfolgt. Ausgegrenzte! Genau dieses Selbstverständnis trieb sie alle doch an. Hatten sie sich nicht aufgemacht der Freiheit wegen? Die Schwulen waren einfach vergessen worden. Aber jetzt waren sie eben mit von der Partie. Der gute Wille zählte wie jedermann und jede Frau. Die Not der Erinnerung instrumentalisierte verlorengeglaubte Mythen. Man skandierte ihre Rituale.

›Völker hört die Signale…!‹

›Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen…!‹

Wieviel Verirrung und Verwirrung darf ein Volk in solch einem historischen Moment für sich beanspruchen? Die Menschen suchen eine Orientierung. Jeder benutzt die Geschichte wie er sie versteht. Später erst werden Richtig und Falsch, Gut und Böse, Erfolg und Verlust voneinander geschieden und per Saldo gemessen. Vorerst tobten Phantasien in aller Stille sich aus.

Die Russen in Paris? Wäre ja noch schöner, empörte sich die Reaktion.

Einmal sind sie immerhin dagewesen. Es war nicht festzustellen aus welcher Richtung diese historische Korrektur stammte.

Im Verein mit Österreich und Preußen, schränkte penibel die akademische Historiographie den Vulgäransatz ein.

Bordelle gab es damals auch, behauptete die Alltagsgeschichte des deutschen Volkes.

Eben, triumphierte die Frauenbewegung an deplacierter Stelle.

Aber die deutsche Wehrmacht…, versuchte sich platter, rückwärts gewandter Materialismus in diesem Historikerstreit.

Vieles rückte aus dem Bereich des Visionären in die Sphäre des Machbaren. Durfte man die Menschen verurteilen?

Alles undialektischer Quark, schien Roberts in der Anspannung noch immer abweisende Miene zu verkünden, und doch litt er mehr, an der Unmöglichkeit zu lieben, und es bedurfte wahrlich keiner Gedankenleserei seitens Flam, um ihn des einen wie des anderen zu überführen.

Im Bemühen einander nicht zu verlieren, hatten sie sich untergehakt und ließen sich vom Strom des Aufruhrs mitreißen, zwei nur auf den ersten Blick unauffällige, aber doch irgendwie fremde, wenn auch in diese Zeit und an diesen Ort gebundene Gestalten, die eine gehüllt in eine gewisse dämonische Eleganz, der etwas Klassisch-Immergültiges anzuhaften schien, die andere von ähnlichem Habit, und scheinbar doch alltäglicher. Ersteren Schritts erinnerte an den eines Tänzers oder Fechters. Er war elastisch ohne weich zu sein. Von der Ferse bis zur Schulter dirigierte ihn eine einzige, zusammenhängende Spannung, unsichtbare Schwingung von Farbe und Ton, die er als Beherrscher überlegen komponierte. Allein Flams wüster Haarschopf sowie etwas Flammendes im Blick widersprach dem Eindruck absoluter Disziplin und verlieh gleichsam wie ein zauberhafter Spiegel der Frage Artikulation: Wer war der?

Robert neben ihm, etwa gleich groß, von gewissermaßen asketischer Schlankheit entbehrte alles Überflüssigen. Die Hosenbeine, weit und bequem, verlachten jede Mode. Das Grau der maßgeschneiderten Joppe hätte proletarisch wirken können ohne jenen Hauch von Eleganz. Auf dem Kurzhaar trug er eine dunkle Kappe, die seinem schmalen Antlitz sozusagen die Krone des Eigentlichen verlieh. Es schien sich um einen Materialisten, wenigstens jedoch um einen Menschen mit Sinn fürs Praktische zu handeln. Aber irgend etwas irritierte und ließ Bedenken am Bild dieser Bescheidenheit aufkommen. Vielleicht war es der Blick, der nachdenklich alles in Zweifel zog und auf den Menschen, der geliebt sein wollte, hemmend wirkte. Nimmt man als Fremder ein solches Individuum als seinesgleichen an? Gewisse Gremien des noch existierenden Staatswesens DDR hatten das Problem erkannt, wenn auch spät, und Robert auf diese Weise zu einer eigenen Art von Erfolg verholfen. Doch von seiner eigentlichen Bestimmung befand er sich noch immer weit entfernt, ein Suchender eben, auch in Sachen Liebe. So schritten sie, wie einst Mephistopheles und der Doctor Faustus, durch die Menge, wenngleich in ihrem Fall die Rollen, hie der Lehrende, da der Begierige, hie die Allmacht, da die Ohnmacht, hie die Versuchung, da die Sehnsucht, nicht so eindeutig verteilt waren. So lavierten sie inmitten der Menge Volks witternd, suchend, einander vergewissernd, scheu und augenzwinkernd auflächelnd, mit dem Wissen über die Vergangenheit und dem geheimen über die Zukunft.

»Magdalena ist nicht gekommen«, stellte Flam bedauernd fest.

»Du weißt ja, sie ist zuweilen sprunghaft«, erwiderte Robert kategorisch. »Wer ahnt schon, was ihr wieder in den Sinn gekommen sein mag.«

»Einmal hast du diese Eigenschaft als spontan gelobt«, sagte Flam ohne Vorwurf.

»Heißt das, das Ende naht?« In Roberts Frage lagen Einsicht und Bedauern dicht beieinander.

»Du liebst sie nicht.«

»Sie mich auch nicht.«

Noch am Nachmittag hatte er in ihrer gemeinsamen Wohnung angerufen.

»Es braut sich etwas zusammen«, hatte er ihr beschwörend erklärt, und sie hatte zugesagt, obgleich sie an politischen Dingen nicht interessiert war. Wie immer war sie willig. Sie war weich und formbar, begabt mit vielen, ihr selbst nicht bewußten Gesichtern, doch ohne erkennbaren, eigenen Impuls, zumindest nicht in einer schöpferischen Dimension, ein brauchbares Material also, um sie im Geiste umzumodellieren in jedwede Form der Sehnsucht wie eine unvollendete Geschichte. Das war sie wohl, ewig unvollendet, ewig im Werden und darin schon verschlissen, eine schöne Ruine, die nie fertig geworden, Entwurf geblieben ist, Ort für romantische Träumereien im Regen. Doch ihr Inneres hat niemals Leben beherbergt. Für den Schreiber ist eine solche Muse nicht das Nonplusultra, aber doch denkbar und nicht ohne Wert. Für den Menschen ist sie Ersatz für alles, was ihm fehlt am wahren Sein, und genau das brauchte Robert in diesem Abschnitt seines Werdens, ein schönes Surrogat. Sie weiß das über sich und über ihn, soviel Einsicht ist ihr eigen. Sie spielt ihre Rolle und gewinnt auch für sich an Erfahrung. Mehr nicht. Was sie daraus machen wird, liegt in göttlicher Hand. Wer weiß. Für einen Augenblick seines, Roberts, Schaffens hat sie – ohne etwas dazuzutun und ohne es eigentlich zu wollen – alles gegeben, dessen sie fähig ist: die Imagination der Begrenztheit. Damit wäre sie nicht erschöpfend beschrieben. Soviel Gerechtigkeit muß der Dichter und Geliebte ihr widerfahren lassen und das Bild erweitern. Sie ist wie ein Brunnen, aus dessen unergründlicher Tiefe Wasser sprudelt. Der Wanderer hat ausgeruht. Seine Phantasie bevölkerte die Gegend eine Weile mit illustren Gestalten. Nun sind Brunnen wie Oase ausgelotet und in Bildern festgehalten, dichterisch kartografiert. Mehr gibt die Örtlichkeit, in der auch alles Anfang ist und alles Ende, nicht her. Man kommt und geht zu und von diesem kleinen, schönen Ort, der der Vollendung wie der Wiedergeburt harrt. Die Zeit steht still. Sekunden dehnen sich und werden scheinbar zu Äonen. Der Ort verschwindet wie ein Traum, versinkt in Schwaden feinsten Sandes. Der Wanderer zieht weiter, sucht sein Ziel. Bedankt er sich für Schutz und die Erquickung? Nach ihm ersteht der Ort gereinigt von den Sanden neu, ist wieder Anfang.

»Ich werde sie vermissen«, greift Robert den eigenen Gedanken und Empfindungen vor. »Aber wer weiß, wozu es gut ist?«

»Bedanke dich bei denen da.« Flams Hand weist wie die eines Feldherrn in die Runde. »Sie geben auch dir eine Chance.«

»Louise wiederzufinden?« Roberts Miene wirkte spöttisch ohne, daß er sich dessen bewußt war, denn indem er ihren Namen aussprach, verspürte er in Wahrheit einen tiefen Schmerz, wie man ihn um alles Erste und Verlorene im Leben empfindet.

»Was habe ich nicht alles unternommen.«

»Du hast zu früh kapituliert.«

»Die Lage war hoffnungslos«, bemühte Robert ein literarisches Bild, »der Gegner überlegen. Ich habe bis zum letzten Atemzug gefochten.«

»Das hast du«, gab Flam ihm recht. Doch blieb ein dennoch. Wie ein unsichtbares flammendes Fanal erhob es sich vor ihnen, schien den Weg zu zeichnen, den Robert gehen mußte.

Louise war ihm vor vier Jahren zur gleichen Zeit begegnet wie Flam, wenn auch auf völlig unspektakuläre Weise und doch gab es Gemeinsamkeiten. Auch sie war ihm gewissermaßen in einer Maske erschienen, die er erst als solche enträtseln mußte, auch sie trug ein Geheimnis mit sich, auch sie war verzweifelt. Diese wie jene Begegnung blieb ihrem Wesen nach einmalig. Soviel zumindest war ihm intuitiv bewußt. Umstände hatten sie getrennt, deren Ausmaß und Charakter Robert bis heute nicht begreifen konnte, denn sie besaßen weder Gesicht noch Namen. Keine Nachricht überbrückte das Schweigen, so schnell und ohne jedes Anzeichen war alles vor sich gegangen.

Bewegung kam in die Masse. Bewegung kam möglicherweise in sein eigenes Schicksal. Vielleicht hatte Flam, der Vielerfahrene, Wanderer zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Zeit und Raum, doch Recht, und er sollte endlich den verdammten Mut aufbringen, sie zu suchen, um Klarheit in seinen Gefühlen zu schaffen.

»Natürlich habe ich Recht.« Flam lächelte bescheiden. »Die Kraft des Pöbels ist wie ein Vulkan. Alle fürchten ihn. Doch alle leben von ihm.«

»In der Verallgemeinerung magst du recht haben«, schränkte Robert ein. »Im konkreten Fall des Heute überwiegen meine Zweifel.« Sein schweifender Blick zeigte indessen deutlicher, wie er den Gegenstand seiner Bemerkung einschätzte. In seiner Miene nistete ein Anflug von Begeisterung, ja, Liebe, und er murmelte, im Widerspruch dazu, laut genug etwas von Hefe und Gosse.

»Wie schnell redet sich so etwas dahin«, mahnte Flam und von seinem Antlitz ging eine große Weite aus, die imstande schien, die ganze Welt in einen Punkt zu fassen, »wie leichtfertig. Verurteilt und zack, ab in die Mottenkiste der Geschichte. Wie’s wirklich ausschaut in den Herzen und in den Taschen danach fragt ja niemand. Ich weiß ja, daß die Angst dich derzeit lügen läßt. Wer, wenn nicht du als Dichter bedächte all die unerfüllten Hoffnungen, den Irrtum noch und noch, die Qual und Leiden all der kleinen Leute. Mögen sie auch schäbig sein und kleinlich egoistisch, so braucht man sie doch für den schönen Kuchen von dem wir alle naschen.«

Das Bild gefiel dem Dramatiker Robert Iks. »Allein«, rief er energisch aus, »ich muß darauf bestehen, daß sie für die Dramatik kein brauchbares Material abgeben.«

»Du widersprichst Brecht?« echauffierte sich ohne wirkliche Erschütterung Flam. »Das ist neu. Sollte der Schüler den Meister überragen?«

»Er hat die Revolution an sich selbst nie versucht«, polemisierte Robert. »Ich bekenne mich heutig.«

»Was soll daß heißen?«

»Eben heutig.«

»Zur Liebe?«

»In die Falle tappe ich nicht. Erfüllung wäre der Tod des Dichters, ein satter Bauch, ein schlapper Schwanz, ein sehnsuchtsloses Gemüt. Das hat der große B.B. gewußt und beherzigt.«

»Und trotzdem sehnst du dich nach ihr.«

»Ich bete, daß sie weniger vollkommen möge sein, als ich sie in Erinnerung habe.«

»Heuchlerischer Dialektiker.«

»Ich schwöre es, bei dem Parnaß!«

Begeistert lachte Flam auf. »Als Franzose hättest du Chancen ins Pantheon zu kommen. Die Deutschen werden dir Walhall verweigern!« rief er gedämpft und fröhlich aus. »Die himmlischen Ehren sind eher bescheiden. In Wahrheit pfeifst du auf sie. Bekenne dich lieber ehrlich! « Er lächelte dieses beinahe übermenschliche, verzeihende Lächeln, das man nicht erlernen kann, auf keiner Schauspielschule, in keinem Motivationskurs, nicht einmal im Rausch, sondern nur durch die Erfahrung des Dunkels, dort allein. Drückt es nicht eine weder vernicht- noch erzeugbare Freundlichkeit aus, gewissermaßen die Urform aller menschlichen Kräfte, ehe sie zerfällt in ihre banalen alltäglichen Manifestationen?

»Ich habe niemals ehrlicher gelogen«, erwiderte Robert. »Was also wirfst du mir vor?«

»Nichts, als daß du Chaos und Ordnung, Bühne und Wirklichkeit, Stillstand und Bewegung nicht beliebig austauschen solltest.«

»Wahre Dichter und wahre Revolutionäre können es!«

»Du bist ein veritabler Dichter«, bestätigte Flam. »Aber ein Revolutionär? Seit vier Jahren drückst du dich vor der großen Liebe.«

»Louise war verschwunden!« rief Robert verzweifelt aus.

»Vielleicht hast du Angst vor der Liebe.«

»Ich habe das Menschenmögliche getan.«

»Das ist nicht genug.«

»Sie ist gegangen«, verteidigte sich Robert.

»Sie liebte dich! Soviel ist gewiß, wie keine vor ihr und keine nach ihr.«

»Die Liebe ist so vergänglich wie das Leben«, klagte Robert einigermaßen theatralisch, »so flüchtig, wie die Bilder der Laterna magica. Ein Lichtstrahl reißt sie aus dem Dunkel und entläßt sie dahin wieder. Nur das Theater gibt ihr wie ihm Form und Größe, ist sein Monument, indem es das Minderwertige vom Bedeutenden trennt und beides vereint. Wahre Liebe muß Anfang bleiben, ewiger Beginn, Romeo und Julia. Die Zeit bleibt stehen im Entstehen.«

»‘Groß bleibt nicht groß und klein nicht das Kleine«, zitierte geheimnisvoll beschwörend und letzten Endes im Einvernehmen und im Widerspruch mit ihm, Flam. »es liegen drei Kaiser begraben zu Prag’.«

»Wenigstens in der Poesie klingt die Einheit von Chaos und Ordnung, das, was wir die menschliche Geschichte nennen, noch schön und schaurig«, ergänzte Robert den Geist des Dichterzitats, und wich Transparentträgern aus. Ernsthafter, ja, mit einem gewissen Aufbegehren, fuhr er fort: »Ich leiste mir manchmal den Luxus, einfach nur als Mensch zu urteilen. Es ist mir zu anstrengend immer und überall als Dramatiker für jede menschliche Entäußerung und noch für den größten Schwachsinn und die unsinnigste Entgleisung Verständnis aufzubringen. Sollen sie doch in ihr Unglück stolpern! Ich habe einfach das Bedürfnis, hin und wieder meiner durchschnittlichen, humanoiden Existenz zu frönen, ohne jede seherische oder mahnende Ambition. Das solltest du auch einmal probieren. Es ist schwierig genug, doch über alle Maßen befriedigend. Eine solche kleine Schizophrenie muß doch erlaubt sein. Das Dasein ist schwierig genug ohne Liebe«, beklagte er sich inkonsequent, fügte, um davon abzulenken zweifelnd hinzu: »Und ohne die Erfahrung des Göttlichen.«

»Wenngleich ich deinen alten rhetorischen Trick kenne«, entgegnete Flam, indem sie über einen Schutthaufen stiegen, »und deinen Versuch, das schwierigere Schicksal für dich zu reklamieren, muß ich dir wieder einmal sagen, du tust mir Unrecht.«

»Ja, ja, ich weiß, in diesem Punkt bist du empfindlich.« Robert klopfte ihm begütigend auf den Arm, obwohl unstrittig der Zufall, Robert mochte es in diesem Zusammenhang weder Schicksal noch Vorsehung nennen, Flam einige Privilegien verschafft hatte, in deren Genuß wohl alle tausend Jahren nur zwei, drei Menschen gelangen. An dessen Person wäre bewiesen, daß Gott – eine Metapher, die Robert in periodisch wiederkehrende Streitgespräche mit Flam verwickelte – nur fast unfehlbar war. Auch dieser Diskussionsgegenstand war so alt wie ihre Freundschaft.

»Das kann ein Gestorbener und Wiederauferstandener auch für sich beanspruchen. Man gönnt sich ja sonst nichts.«

»Wie war das mit der Ehrlichkeit?« unerbittlich setzte Robert die Dornenkrone des Spotts auf das irdische Haupt des einzigen und wahren Freundes.

»Frag besser in diesem Augenblick nach der Liebe«, revanchierte sich Flam. »Wir scheinen allerdings mit diesem Anspruch allein auf weiter Flur zu sein«, bemerkte Robert.

»Es sieht nicht gut aus für die Revolution«, sinnierte Flam.

Nirgendwo fand die wahre Liebe Erwähnung. Sinn und Auge schweiften. Nichts. Aber hatte nicht ein jeglicher seine ureigene Vorstellung, sein individuelles Bild von Charakter und Gesicht dieses kollektiven Unwillens, der sich nun in machtvoller Demonstration auf die Berliner innerdeutsche Grenze zu bewegte.

»Das der Marianne wird es wohl nicht sein«, nahm Flam mit der ihm eigenen, und allein Robert nicht verwunderlichen, Intuition den gedanklichen Faden auf, »keine phrygische Mütze, keine Trikolore, keine entblößten Brüste, voila.«

Eine deutsche Fahne, Schwarz, Rot, Gold, tauchte nun doch endlich, mutig geschwenkt, im Blickfeld auf. Schwarz wie ihre Mütze, Rot wie ihre Lippen, Gold wie ihre Augen, mit ein bißchen schönem Irrsinn darin.

Eine starke Stirn, umrahmt von strengem Haar zeigte dieses Bild, einen großen, feinsinnigen und zügellosen Mund, auf dem ein stetig fragendes Lächeln zu trauern schien und sich versteckte, als schäme es sich seiner Gegensätzlichkeit, versteckte im Schwung der Wange und des Kinns mit dem dieser Materie eigenem Dualismus; wache, ein wenig träumerische, wache Augen, in denen als ein ungewisser Widerschein, die große, die wahre Liebe zu glänzen schien, zusammen mit den hellen, sich wiegenden Schatten aller Antworten. Dieses Antlitz, dessen zukunftgebietende Proportion, durch die gebauschten Konturen der Fahne verstärkt, ihn auf ihr Wesentliches hinweisen wollte, dünkte Robert würdig, eine Revolution zu verkörpern. Es aber ließ sich diese doch sehr allgemeine und mehr symbolische Rolle nicht so einfach überstülpen, ja, es empfand sie wohl in einem trotzigen, letzten Ausdruck als Verrat. Ein Windschlag schuf einen Riß durch ihre Stirn, schräg über die rechte Wange. Böen zerflatterten ihr magisches Konterfei. Aber das Hologramm ihrer Erscheinung konservierte sich in jeder Faser in jedem Molekül des nationalen Gewebes. Einmal eingebrannt transportierten die atomaren und subatomaren Teilchen bis in alle Ewigkeit ihre Botschaft.

Das wäre ganz ihre Art, sich in Erinnerung zu bringen, dachte Robert wehmütig. Beunruhigt und doch voller erneuerter Freude nahm er das Bild in sich auf, obwohl sie sich nicht einmal verabschiedet hatte, damals so wenig wie heute. Sie war einfach wie vom Erdboden verschluckt, vom Wind der Geschichte verweht, und so war auch sie, seine eigene, ganz persönliche Revolution, sein Aufbruch, seine Wende, nun, nach vier Jahren, noch immer unvollendet, ein deutsches Schicksal eben!

›Groß bleibt nicht groß und klein nicht das Kleine. Es liegt eine Liebe begraben zu …‹ Ja, wo denn? Wenn er das wüßte. Und abfinden wollte er sich, obwohl er irgendwann aufgegeben hatte, noch immer nicht damit. Er hatte gegen ein obwaltendes Schicksal angekämpft und verloren. Die Zeit hatte ja verharrt. Aber jetzt schien sie wieder in Schwung zu geraten. Das Leichenhaus eines ganzen Landes näherte sich dem Jüngsten Tag. Die Toten erstanden auf aus dem zeitlosen Seinnichtsein. Sie legten keine Rechenschaft ab, forderten jedoch kraft ihres Status solche ein. Diesseitige Interessen wirkten als Sand im weltlichen Getriebe. Kosmisch langsam mahlten die Mühlen jenseitiger Gerechtigkeit, immer zur göttlichen Sicherheit, versehen mit einem quantendynamischen Vielleicht. Würde es jemals das Diesseits erreichen, dieses allerhöchste Versprechen, welches in irdischer Zunge als infantiles Eiapopeia erklang? Gott als Sinnbild der Liebe. Gott als Sinnbild der Revolution. Die kann man auseinanderkartätschen. Aber eine wahre Liebe? Nun ja, Schiller! Nun ja, die alltägliche Erfahrung! Nun ja, die Stasi! Obwohl er wissend ahnte, wie eng beides miteinander verwoben war, das Diesseits und das Jenseits, die Liebe zu allen und die Liebe zu einer, das Gestern und das Morgen, und dadurch die ganze Chose noch komplizierter wurde, fand er doch wieder die Kraft und den Mut zur Hoffnung auf das eine wie das andere. Besaß die erfüllte Liebe nicht vielleicht doch ein Sehnsuchtspotential, das Kreativität erlaubte?

Flam störte seine Gedankenkreise nicht. Eine kleine Aussicht zu eröffnen schien dem Augenblick angemessen. Das mußte nun für sich wirken. Gewißheiten besaß er selber keine, nur ein hin und wieder wirkendes Talent anderen in die Tasche zu schauen, ins Herz und manchmal in die Zukunft. Zu Zeiten war ihm die Gabe lästig, zumal wenn sie ihn zwang, sich in liebgewordenen Klischees zu korrigieren. Dieses Volk der Deutschen, zu dem er sich nun kraft göttlichen Irrtums seit geraumer Zeit auch zu zählen hatte, litt nicht wahrhaftig. Keiner ballte also unauffällig die Faust, keiner klagte die Menschenrechte ein, jedenfalls keiner von diesen Zaungästen der Geschichte, die, wie von einem lauen Lüftchen getrieben, über die Straße Richtung Mauer dümpelten. Dümpelten. Der Wind sei schuld gewesen, wollten sie im Ernstfall später ihre Henker anflehen und auch anklagen. Aber schon gab die Flüsterpropaganda Entwarnung: Standgericht, das würde die Stasi nicht wagen. Nun überschlugen sich die Phantasien, wenn auch insgeheim und entkamen dem Wirkkreis ihrer Urheber. Den Russen würde von ihren Natschalniks der Bordellbesuch auf deutschem Boden strikt verboten und erst – so hoffte der kleine Mensch! – fürs verlotterte Frankreich in Aussicht gestellt werden. Dem würden sie bis etwa auf die Linie Dortmund-Köln vertrauen. Dann jedoch hätte sich ihr Glaube erschöpft, ihre Kampfmoral ginge den Bach runter. Die NATO würde endlich zum Gegenschlag ansetzen und die Mauer niederwalzen. Freunde, das wäre doch denkbar.

Im Überschwang der Schwärmerei entrollte jemand ein Plakat. Freie Reise – Freie Liebe! stand darauf zu lesen. Na also. Wer sagts denn! Blühte da nicht eine schöne Hoffnung?

Schon schieden sich die Geister unterm dämmrigen Novemberhimmel im Osten Deutschlands. Freie Reise schien den meisten in Ordnung. Freie Liebe hingegen hatte etwas Anarchisches.

»Frei in der Wahl, ein Regime zu lieben oder nicht!« proklamierte ein Redner der ersten Stunde, der die Bornholmer Straße in Ostberlin mit Hyde Park Corner in London verwechselte. Erstaunlicherweise wurde er nicht verhaftet, so wenig wie ein Punk-Pärchen, das der Losung zweiten Teil auf seine Weise in einem Hauseingang praktizierte. Rhythmisch klirrten Panzerketten. Aber nein, das war ‘53. Jetzt war man um 36 Jahre weiter, und die Punkerin blieb ungestraft behängt mit hunderten von Ordensmedaillons, selbst auf dem Hintern.

»Furchtbar«, stöhnte Robert in das allgemeine Tohuwabohu und mehr zu sich selbst als zu irgendeinem Menschen, schon gar nicht zu Flam, der seine Meinung ohnehin kannte und lächelte wie er immer lächelte, eben wie einer, der mehr weiß als die anderen, so daß Robert noch eins draufsetzte: »Sollten wir uns nicht wünschen, daß alles so bleibt wie es ist oder besser, wird wie es war, Monsieur le Marquis?«

Flam, der über ein hundsmäßig scharfes Gehör verfügte, schlug ihm in überirdischer Sanftmut den Arm um die Schulter und flüsterte gegen das Tosen der Empörung an: »Mon ami, das ist nicht dein Ernst! Hast nicht du mir hin und wieder in den Ohren gelegen, endlich etwas zu unternehmen? Ich sollte, ich, anstelle des trägen Pöbels.« Dazu verzog er das Gesicht in einer Manier, die er prophetisch zu nennen pflegte, und von der er behauptete, sie Nostradamus persönlich abgeschaut zu haben. »Es ist nun des Höchsten Wesens Wille. Da ist nichts zu machen.«

»Hab ich nicht, du rothaariger Satan«, entgegnete Robert heftig und wußte, daß es wenigstens zur Hälfte gelogen war. Was sagt man nicht alles so dahin in einer Ostberliner Kneipe vor etwa drei Jahren, wenn man betrunken ist. Sicherlich, in vino veritas und in Bier nicht minder. Aber hatte Flam so einen mit alkoholischer Leichtfertigkeit hingeworfenen Stoßseufzer gleich an die wesentliche Instanz weiterleiten müssen? Manchmal war er geneigt, diesen Verweis als Ausrede anzusehen. Aber eine materielle Erklärung für das Geschehen hatte auch er nicht. Unbestritten blieb, daß Flams Wünsche überdurchschnittlich oft in Erfüllung gingen. Nie war vorhersagbar wann, und manchmal handelte es sich um Banalitäten, an denen ein Höchstes Wesen keinesfalls interessiert sein konnte. Wie auch immer solche Vorgänge zu interpretieren waren, Zufall oder Gesetz, Chaos oder die Macht des kollektiven Wunschs, die immanente Schwäche des Regimes oder sein eigener bescheidener Beitrag als Dramatiker, er hatte nicht vor, sich der historischen Verantwortung zu entziehen. Auch er hatte die Geister gerufen. Würde man ihrer Herr werden? Seine Besorgnis hätte sich auf der Stelle zerstreut, wäre ihm in diesem Moment der Gedanke an die Macht des Geldes gekommen. Ja, er hatte Angst und wollte es nicht zugeben. Angst? Lächerlich. Angst wovor, vor dem Neuen, das da jenseits der Mauer lauerte? Angst vor den Möglichkeiten, die es bot? Angst vor der freien Liebe? Jedoch der Stein war im Rollen, jedes Zögern anachronistisch. Hatte nicht dieses Land, dieses geografische und politische Gebilde in seinem Rücken wie um ihn herum, vor geraumer Weile schon jenen Zustand erreicht, da jede Veränderung besser erscheint als keine? Wie lange hatte er es nicht wahrhaben wollen, hatte sich damals wie mit Zähnen und Klauen gegen jede Einsicht gewehrt und Doktor Flamberger, seinem Dramaturgen und persönlichem Spitzel vertraut, der jeden unreflektierten Ansatz von Kritik in seinen Stücken aufspürte und unschädlich machte. Die Verhältnisse hatten ein gegenseitiges Geben und Nehmen erzwungen. Waren sie nicht , ohne es je zu bekunden, einander dankbar gewesener, der junge Autor einerseits und der nunmehr vor vier Jahren auf tragische und gleichermaßen groteske Weise ums Leben gekommene Dr. Flamberger andererseits? Verträgt die Kunst Kompromisse? Hier muß ein klares Nein ausgesprochen werden. Doch die Verhältnisse der Diktatur erzwingen sie, und auf einem schmalen Grat sind sie dem Artifiziellen sogar dienlich, indem sie Kreativität befördern.

Trotz des Erfolgs als Nachwuchsdramatiker der DDR war im Laufe der Jahre in Robert wie ein Krebsgeschwür eine Art Unzufriedenheit gewuchert. Sie teilte sich schließlich mit, wenn auch metaphorisch codiert. Dr. Flamberger indessen hörte das antisozialistische Gras wachsen und blieb fair, so lange er nicht an seine Grenzen stieß. Waren die irgendwann erreicht gewesen? Robert dachte noch heute, da jener in doppeltem Sinne längst Geschichte war, daß der ihn wenigstens gewarnt haben würde, wenigstens kryptisch verschlüsselt. Soviel Fairness traute er ihm zu, im Gegensatz zu all den anonymen Kräften der Partei, die da immer recht haben wollte. Da jener, als sein betreuender Dramaturg, es unterlassen hatte, vermutete Robert Kräfte und Interessen hinter seinem damaligen Abstieg, die einem shakespearschen Königsdrama wohl genügt hätten. Er als dessen Protagonist? Nun lächelte er doch in aller Bescheidenheit und summte wie als Parodie auf sich selbst die Melodie jenes berüchtigten Lieds vom historischen Rechthaben, leise, denn es würde falsch verstanden werden. Dabei schien alles so gut anzufangen für ihn, damals, da er, fast noch ein Jüngling, beschlossen hatte, als unerbittlicher Beobachter der menschlichen Gesellschaft, in sonderheit der sozialistischen, den Spiegel vorzuhalten. Das war eine großartige Formulierung, wenn auch maßlos untertrieben. Der Beginn war viel unbescheidener gewesen. Er wollte berühmt werden. Mindestens die klassische Antike mit ihren immergültigen Gleichnissen sollte das Rohmaterial für sein Werk liefern und kein Geringerer als Brecht mit seinem Genie, die falsche Größe zu entlarven und die Menschenliebe der Sentimentalität zu entkleiden und damit auch noch reich zu werden, das Vorbild. Schnell wurde Robert in Funktionärskreisen wie beim Publikum als das junge Talent gehandelt. Aber dann kam alles ganz anders. Irgend etwas hatte er falsch gemacht. Oder nicht? Wie fühlte er sich alt mit seinen fünfunddreißig Jahren und der Erfahrung mehrerer Leben als Seemann, Kohlenträger, Postbote, Totengräber, Student, Liebhaber einer reifen Rezensentin und Stückeschreiber!

»Du galtest als das Talent«, sagte Flam, der wieder einmal seine Gedanken gelesen hatte.

»Schäm dich«, sagte Robert.

Flam zwinkerte besänftigend. »Glaub mir, es funktioniert nur, wenn du dich in äußerster Bedrängnis befindest. Dann erreicht mich so etwas wie ein Hilferuf. Darüber solltest du froh sein. Gewöhne dich endlich daran. Ich bin deine persönliche Notrufsäule.«

Robert, der dem Phänomen, trotz mancherlei positiver Erfahrung in den Jahren, noch immer mißtrauisch gegenüberstand, warf ihm einen prüfenden Blick zu und beruhigte sich.

»Aber eines Tages war es vorbei mit der Förderung durch Partei und Regierung. Ich war in Ungnade gefallen.«

»Du konntest nicht anders handeln.« Wie stets bei der Erörterung dieses Themas besänftigte Flam ihn. »Du bist einfach der Stimme deines Gewissens gefolgt.«

»Ein Gewissen!« klagte Robert eine Spur zu theatralisch und fast schon revoltierend. »Wozu leiste ich mir ein Gewissen? Ist das nicht anachronistisch? Was soll nur aus mir werden mit solch einem Ballast am Hals?«

»Die Zukunft wird uns eine Antwort geben.«

»Das ist dein alter Trick. Du drückst dich um Auskunft und rettest dich nicht einmal in Prophezeiungen. Du solltest Politiker werden.«

Nun lachte Flam doch unverblümt und ehrlich. »Im Gegensatz zu deren, sind die meinen zumeist eingetreten.«

»Dann sag schon, werde ich Louise wiedertreffen? Werde ich endlich wieder Erfolg als Dramatiker haben? Wirst du eine Liebe finden? Werden wir reich und berühmt werden?«

»Das Höchste Wesen läßt sich nicht in die Karten schauen. Schließlich ist es der Erfinder des Zufalls. Außerdem bist du maßlos. Nein, nein, so wird das nichts. Ich werde dir gar nichts mehr prophezeien. Jede Gewißheit schadet der menschlichen Kreativität.«

Das war unbestreitbar eine allgemeingültige und durch vielfache Erfahrung bestätigte Behauptung. Darauf lief es immer hinaus. Robert, seine selbstgewählte Rolle als Dialektiker verlassend, drang in den Freund. Der erging sich allenfalls in nostradamusschen Formulierungen oder in banalen Weisheiten. Trotzdem war es ein spannendes Spiel. Irgendwann einmal hoffte Robert, ihn mit einer Frage in derartige Bedrängnis zu bringen, daß er sich nur noch mit der unmißverständlichen, unverschlüsselten Wahrheit würde retten können.

»Warum ist Magdalena nicht gekommen?«

»Sie hatte keine Kopfschmerzen.« Flam lächelte sanft. »Über die Mauer springt ein Hahn. Immer wenn er kikerikit, legt er ein goldenes Ei in ein warmes, feuchtes Nest.«

»Ein Hahn!«

»Ja, ein Hahn.«

Roberts Miene deutete Skepsis an. »Sie hat keine Kopfschmerzen?«

»Zephalgie?« Mit professionellem Ernst verneinte Flam und ließ den Kopf demonstrativ wie bei einer Sportübung kreisen. »Ich bin darin erfahren. Vor allem wenn sie von der Halswirbelsäule ausgeht.« Er massierte sich demonstrativ eine Stelle, die auch der Henker genau kennt. »Nein, das ist bei ihr nicht zu erwarten.«

Robert lächelte anerkennend. »Narr, du hast es wieder mal geschafft, deinen Herrn zu erheitern und nachdenklich zu stimmen. Aber erwarte keinen Dank. Ich werde dich nicht nach Phantomschmerz und dergleichen Attitüden befragen. Erhoffe dir von mir kein falsches, noch ehrliches Mitleid.«

Ihr Geplänkel hatte einen tieferen Sinn. Denn in komödiantischer Form verfremdete es einen wahrhaftig erlittenen Schmerz und machte ihn erträglich. Das Ereignis lag weit zurück und war gleichzeitig sehr gegenwärtig. In der Person von Flam schloß sich die Zeit zum Kreis wie ein Zentrum von unendlicher Gravitation. Seine Existenz bildete eine Anomalie, ein unerklärliches Geheimnis jenseits der Gesetze von Raum und Vergänglichkeit. Mehr als ausgesprochen worden war, mußte dazu nicht gesagt werden. Bestimmte Wörter waren wie das Signal zweier Blinder, mit dem sie sich vergewissern, daß der andere noch da sei.

»Ich brauche Euer Mitleid nicht, Monsieur«, warf Flam hin. »Verschont mich, Herr, mit Eurem dramatischen Firlefanz. Laßt den unbefriedigten Dichter und Liebhaber nicht an mir aus. Widmen wir uns der Gegenwart.« Er wies flüchtig in Richtung einer Menschentraube. »Wir wollen dort ‘nüber gehen, mon ami.«

Widerstrebend schloß sich Robert an. Der Masse jeglicher Erscheinungsform gegenüber hegte er eine tiefe Abneigung. Er mißtraute Menschen, Künstlern und anderen Prominenten, die angeblich das Bad in der Menge genießen. Er beneidete sie allenfalls um die Fähigkeit der Selbstverleugnung und des Selbstbetrugs.

Aug in Aug mit der Bewunderung!

Hautnah den Puls des Volkes fühlen und von ihm, dem Volke, lernen! Taratata, Monsieur.

Durch den Händedruck des Werktätigen Bestätigung erfahren.

Nähe! (Angeblich geistige)

Der Preis:

Aug in Aug mit der Verständnislosigkeit, der Mißgunst, der Verachtung.

Mitesser in verstopften Poren zählen.

In Schwaden billigen Parfüms der Marke »Kremlmauer«, den Kanister zu einsachtzig, um Atem ringen.

Das sind schlichte Empfindungen, aber solche hat auch ein begnadeter Schriftsteller als Mensch gelegentlich. Als Dramatiker bemüht er freilich anders angelegte Gleichnisse.

Eine solche Prüfung zu bestehen, wäre eines Odysseus würdig gewesen, eines Homer, sie zu erfinden! Wer sich ihr unterzog, war einer der ihren. Blind und taub geschlagen vom Odeur der Masse. Ein Polyphem hätte ihn nicht mehr von seinesgleichen unterschieden. Auf diese Weise sortierten Hinz und Kunz seit Alters her die Spreu vom Weizen; Proletentradition, die sich bewährt hatte. Junge, du bist doch einer von uns, hatten die Genossen Funktionäre immer von ihm gefordert, und als wäre das nicht genug auch noch vertraulich grinsend, selbst dann noch, wenn sie ihm die Denunziation von Kollegen nahelegten. Die Weigerung hatte ihm nicht geschadet. Denn es gab auch unter den Genossen solche, die Charakter noch zu schätzen wußten. Was war es dann gewesen? Die Frage beschäftigte ihn heute wieder stärker als jemals in den Jahren zuvor. Parallel zu seiner Verachtung der Masse, hegte Robert eine zwiespältige Achtung für die Menschen der Macht. Er ahnte, daß sie nicht nur Täter sind, sondern auch immer Opfer an sich selbst. Aus diesem Konflikt mächtiger Persönlichkeiten hatten bedeutende Autoren ihren Stoff bezogen. Was reizte sie daran? Hin und wieder, in schwachen Augenblicken, überkam Robert das Bedürfnis einer der ihren, einer der Mächtigen zu sein. Das war kindisches Wunschdenken und entsprang dem Bewußtsein seiner Unzulänglichkeit. Doch von Zeit zu Zeit wurde es schier übermächtig in ihm. Ein Äquivalent wäre die Liebe gewesen. Aber mußte er sie nicht tatsächlich fürchten, als das Ende des Weges, als Podest bürgerlicher Selbstzufriedenheit? Andere flüchteten sich in die Vorstellung vogelgleicher Freiheit. Er jedoch verweigerte sich der irdischen Minne ohne sich zu erinnern, daß Liebe auch Weg war und keinesfalls ein Endzustand. Als Ausdruck seiner ideellen Negation blieb er aprupt stehen. Doch die Masse drängte in die Zukunft und riß den Zaudernden mit sich.

»Fliegen müßte man können.« Mit diesem infantilen Anspruch wehrte sich der Genötigte gegen die anonyme Anmaßung des Volks, Motor der Geschichte zu sein.

Immer mehr Menschen strömten aus den Seitenstraßen und animierten sich gegenseitig mit der Forderung: »Die Mauer auf!«

Die kompromißlose Formel holte Robert zurück auf den Boden der Tatsachen. Mit der einen Hand klammerte er sich an Flams Schulter. Die andere wehrte einem unheilvollen imaginären Raum in Richtung Grenze. »Dahinter ist nichts. Du wirst sehen, ein Riesenloch, nichts weiter, schwarz und unermeßlich«, faßte er seine Ängste in Worte und nötigte seiner Phantasie eine literarisch ambitionierte Erklärung ab. »Sie haben uns verarscht. Es gibt gar keinen Klassenfeind. Alles nur Propaganda der Fünf-Minuten-Haßsendung.«

»Lieber Gott«, flehte Flam, während er ihn hinter sich herzog, »er weiß nicht, was er redet. Verleihe ihm die Fähigkeit des Fliegens, damit er aufhört, solchen Blödsinn zu schwätzen.«

Er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, daß dieser alberne Wunsch erfüllt werden würde. Den allzu offensichtlichen Ausdruck von Wundern versagte sich das Höchste Wesen seit kurzem, also seit etwa zweitausend Jahren, aus historisch nicht sicher belegtem Anlaß. Robert indessen hob ab. Er stieg auf in den dunklen Himmel, der ihm trotz der fehlenden Dimension der Endlichkeit nicht sehr weitläufig erschien. Darin konnte man sich wohl nicht verirren. Ein Rest an Zweifeln blieb. Träumte er dem kommenden Absturz entgegen? Doch in dem wunderbaren Gefühl der Schwerelosigkeit verlor sich seine Beklemmung, und er betrachtete die Menschen unter sich. Niemand bemerkte ihn. Bis auf einen. Der erkannte ihn selbst auf die Entfernung wieder. Wunder existierten für den Obersten des MfS, Hartlieb Struwe, nicht. Er war es gewohnt, die Dinge zu nehmen wie sie waren. Wenn eine höhere Instanz das abgesegnet hatte, dann war das in Ordnung. Dann hatte das seinen Sinn. Dann war das ein Signal für ihn sein Handeln darauf einzustellen. Solchermaßen vereinte er in sich den Realisten mit dem Gläubigen, sozusagen, die Quadratur des Kreises. Dennoch konnte seine Erscheinung kaum als bemerkenswert gelten. Er war ein durchschnittlicher Mensch, den man sofort vergaß. Dieser Eigenschaft verdankte er wesentlich seine Karriere sowie seinem wachen Gespür für Gefahr, das dem Grundsatz folgte, ändern sich die Umstände, ändere ich meine Meinung. Als kleiner Fouche konnte er solcherart niemals zum Verräter an sich selbst werden und hatte es wenigstens bis zum Dienstrang des Obersten gebracht. Er beobachtete Roberts elegante Manöver, und er meinte, es wäre nun der Augenblick gekommen, sein Werk zu vollenden. Die Legitimation war einfach. Da flog ein, ihm als subversiv bekanntes Subjekt, und das durfte es nicht. Das war wider die Natur und wider die Gesetze des Staates, dessen Sicherheit er zu gewährleisten hatte. Die einmalige Gelegenheit, endlich den Seelenfrieden wieder zu erlangen, wollte er nicht versäumen.

In ein kleines Mikrofon, versteckt in seinem Schal, flüsterte er den Befehl: »Provokation des Klassenfeindes. Feindlich-negatives Flugobjekt, Grenzübergang Bornholmer Straße. Abschießen. Auf alle Fälle abschießen.« Doch die Verbindung war schlecht. In seinem Ohrhörer rauschte es. Ringsumher rauschte der Atem der Geschichte. Die Menge wogte und schwankte. Verzweifelt suchte ein hochrangiger Mitarbeiter des MfS den Lauf der Geschichte aufzuhalten.

Alles drängte sich nach vorn, gegen das Bollwerk, das die Welt zerteilte. Aufgeregt liefen am Grenzübergang Soldaten hin und her. Ohne eigenes Bemühen stieg Robert höher. Scheinwerferkegel erfaßten ihn und ein Spielzeugmaschinengewehr, Kaliber 7,62, 600 Schuß pro Minute, richtete seine Mündung auf ihn. Der Schütze meldete seinem Vorgesetzten Feuerbereitschaft. Aber der Befehl zum Feuern blieb aus. Aufgrund der Befehlsstruktur war damit das historische Interludium Deutsche Demokratische Republik besiegelt. Man hätte sich später vor der Weltöffentlichkeit hervorragend damit herausreden können, im Interesse der Sicherheit von Luftkorridoren einen verirrten Vampir abgeschossen zu haben. Die Vokabel Blutsauger besaß immerhin einiges an Klassencharakter, und damit war man seit siebzig Jahren glaubwürdig gewesen. Hingegen der augenblickliche Effekt hätte den Lauf der Geschichte radikal verändert. Unter Wirkung des Feuerstoßes wäre die Masse zurückgeprallt, hätte sich bei Mitarbeit Inoffizieller Ordnungskräfte, IOK, zerstreut und die Lage hätte sich entspannt. Die Salve hätte einen Präzedenzfall geschaffen, andere diensthabende Offiziere hätten sich ermutigt gesehen, ebenfalls Feuerbefehl zu erteilen. Im Ergebnis hätte der Sturm auf die Mauer als ein Irrtum, besser noch als eine Inszenierung des Klassenfeindes hingestellt werden können. Angesichts seines Verrats wäre Gorbatschow gestürzt worden. Den Ungarn hätte man diesmal mit Panzern nur zu drohen brauchen. Daraufhin kämen die verdammten Polen zur Vernunft. Der Rest des Bruderbundes müßte kuschen. Das würde die revisionistischen Kräfte innerhalb des Weltkommunismus entscheidend schwächen und endlich der Idee des Fortschritts und des Humanismus den auslösenden Impuls verleihen. Auf zum letzten Gefecht! Was für himmlische Möglichkeiten, leider versehen mit genau fünfzehn Ungewißheiten zuviel. So prägte denn nicht der ohnehin zweifelhafte kategorische Imperativ, sondern der mindestens ebenso, wenn nicht noch zweifelhaftere grammatikalische Konjunktiv auch diese deutsche Erhebung.

Folgerichtig flog Robert unbehelligt, und lediglich von Flam und dem Obersten heimlich beobachtet, weiter. Er nahm die Gelegenheit, wenn auch erzwungenermaßen, wahr, die Gegend jenseits der Mauer zu erkunden. Tatsächlich sah er dort ein schwarzes Loch. Auch dort Masse. Mensch. Soweit das Auge reichte alles schwarz von. Nur hier und da hoben sich, betont von einer Art glänzenden Aura, Plakate mit der Aufschrift: ›Stoppt den Rinderwahnsinn‹, ›Metzger fordern: BSE-freies Rumpsteak‹ oder ›Deutschland den Deutschen, BSE den Engländern‹ hervor. Trotz oder wegen seiner Vorausschau des jenseitigen Zustands, empfand Robert Bestürzung. Visionen erschienen ihm seit jeher verdächtig, um so mehr, wenn sie eintrafen. Dann fühlte er sich zurückversetzt in einen atavistischen Zustand traumzeitlichen Vorbewußtseins. Damals wirkte einzig die Logik der Notwendigkeit und abertausend Zufälle. Die Aussicht auf die Menschwerdung hätte keinen Affen vom Baum gelockt, die auf eine Banane schon eher. So gesehen hatte sich nicht viel verändert. Vor dem Hintergrund erschien ihm die paradiesische Frucht wie das ureigene Symbol des Egoismus. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral noch lange nicht. Quo vadis, Mensch? Er suchte einen Halt. Indessen ihn umgab die Düsternis des Höhlenbewohners, der nur Schatten wahrnimmt, in demokratischer Gleichheit im Osten wie im Westen. Wo fand das wirkliche Leben statt, wo die wahre Liebe? Wo war das Licht? Lediglich zu seinen Füßen lohte wie ein rettendes Fanal Flams feuerroter Haarschopf. Doch um ihn herum war kein Fußbreit Bodens mehr frei. Notgedrungen landete Robert auf den Schultern des Freundes und schrie ihm ins Ohr:

»Ich hatte recht. Ein schwarzes Loch dort drüben«, ohne sich bewußt zu sein, wie vulgär die Formulierung in den Ohren eines Franzosen klingt. »Laß uns umkehren und irgendwo was essen gehen.« Wahrhaftig hatten sie seit dem Mittag nichts anderes als eine Currywurst bei Konnopke zu sich genommen.

»Für einen dürren Hund bist du ziemlich gewichtig«, beschwerte sich Flam und ignorierte mit der Frotzelei die degoutante Formulierung des Freundes. »Dies ist ein großartiger, ein erhebender Augenblick. Aber du weißt ihn offenbar nicht zu würdigen.«

»Schon, schon«, beeilte sich Robert zu versichern. »Aber wir müssen uns dranhalten.« Einer Eingebung folgend fügte er hinzu: » Wir werden nie wieder für nur fünf Mark ein BSE-freies Rumpsteak kriegen. Aber was ist das, BSE?«

»Es ist eine Krankheit geschaffen durch Gier!« erklärte Flam. »Maßlose Profitsucht wird sie in die Welt dort drüben, die bald auch die unsere sein wird, setzen.«

»Ein Grund mehr, sich zu sputen«, forderte Robert. »Dort jenseits droht die Zukunft.«

»Parbleu!« erregte sich Flam in seiner unglückseligen Position als Reittier. »Dir widerfährt eine göttliche Offenbarung, du erlebst einen historischen Augenblick, du machst unversehens Geschichte, und du willst essen gehen?! Louis seice von Frankreich war kaum ignoranter. Dabei hatte ich ihn immer wieder gewarnt, Sire, hatte ich gesagt…«

»Ja«, jubelte Robert, da er das Histörchen schon kannte, in der Euphorie des soeben beschriebenen Zustands und in dem trotzigen Bewußtsein, daß keine Revolution die Fähigkeit des Genies wirklich jemals benötigt, indem er mit den Fingerknöcheln einen infanteristischen Trommelwirbel, wie er das Fußvolk seit je her in die Schlacht begleitete, rrramtatam, rrramtatam, auf Flams Schädel schlug, »und ein Glas BSE-freien Roten!«

»Nieder mit den Roten!« schrie in der Nähe ein salopp gekleideter Mensch mit Boxervisage.

»Tod den Kommunisten!« nahm ein Herr mit dem Ansehen eines emeritierten Professors der Germanistik die Losung auf, machte, indem er in leninscher Pose den Arm gegen sie erhob, Front gegen Robert und Flam.

Der Kampfesruf vervielfachte sich und brauste wie Donnerhall über den Platz. Augenblicklich mit dem nämlichen Bewußtsein ernüchtert schrie Robert mit. Er hätte natürlich auch wegfliegen können, so lange die Kraft von Flams Wunsch noch anhielt. Doch durfte er den Freund der Willkür des Pöbels überlassen? Lauter als alle anderen skandierten sie und auch der Oberst: »Nieder mit Ulbricht, Stalin und Trotzki!« Krenz, Mielke und den Parteigenossen Schulz hatten die einen in der Aufregung, der andere aus Klassenbewußtsein vergessen.

»Ihre Ausweise«, verlangte in näselndem Sächsisch ein nicht auf der Höhe der Zeit befindlicher Zivilist. »Diese Äußerungen sind Verunglimpfung der DDR.«

Flam lachte nun trotz seiner Bürde in echt aristokratischer Unverschämtheit und wollte sich auf die Schenkel schlagen vor Vergnügen. Dabei verlor er die Balance. Robert stürzte auf den Zivilisten und begrub ihn unter sich. Inmitten der drängenden Menge entstand – wie gewisse Trivialpoeten den Moment des Todes bisweilen euphemistisch zu umschreiben pflegen – eine Insel ohne Zeit und Raum, das hieße allerdings in Wirklichkeit, ohne Oben und Unten, mithin ohne Schwerkraft. Behende der Peinlichkeit entrinnend, der er sich in so naher und dadurch kompromittierender Begegnung mit der anonymen Macht ausgesetzt sah, im Bannkreis des Mirakulösen alsogut wie gewichtslos, schnellte Robert sich auf die Beine. Der Sachse war hin. Das sah man auf den ersten Blick. Getragen von Luftwirbeln rotierte der Leichnam würdevoll in die Höhe. Zum wiederholten Mal an diesem Tag suchte Robert nach einem Halt, und er flehte Flam an: »Tu was.«

»Es wäre mein dritter Wunsch heute und wir wissen nicht, was uns noch bevorsteht«, versuchte Flam sich der Verantwortung zu entledigen, doch nicht auch zuletzt auch in der Ahnung ihrer Zukunft.

Zunehmend erregte der schwebende Tote Aufmerksamkeit. Der Haufe in Richtung Mauer geriet ins Stocken. Der anonyme Oberst benutzte den Stillstand, rief nach Ruhe und Ordnung als erster Sozialistenpflicht. Die magische Formel verfehlte ihre Wirkung nicht. Schon formierte sich die Menge aus alter Gewohnheit zur disziplinierten Kolonne. Kehrt marsch! flüsterte es aus versteckten Lautsprechern und die IOK kolportierten den Befehl noch in den letzten Winkel. Die Revolution drohte an ihrem ersten und einzigen Toten zu scheitern.

»Das sind wir der Geschichte schuldig«, drängte Robert den zögernden Freund. »Wie schnell können aus einem Toten viele werden. Du mußt handeln. Was predigst du mir immer!«

»Auf deine Verantwortung, und ich weiß nicht, ob es klappt.« Flam murmelte etwas durch seine nicht ganz ebenmäßigen, aber ansonsten sehr gesunden Zähne. Ein wenig würdelos klatschte der Tote auf den Boden, und in seine gebrochenen Augen kehrte Leben zurück. Robert hielt dem Wiederauferstandenen die Hand hin, zog ihn hoch, klopfte ihm den Staub vom Mantel.

»Danke, Volksgenosse«, sagte derselbe in bestem Hochdeutsch. »Hat der Führer schon gesprochen? Mein Gott, ich werde ihn doch nicht verpaßt haben!«

»Um etwa fünfzig Jahre«, Robert grinste sardonisch. »Wir schreiben das Jahr 1989.« Er hätte noch eins draufgesetzt, um die Verwirrung des Heimgekehrten zu vollenden, denn seine Eigenschaft als Dramatiker trieb ihn manchmal zu närrischem Spiel auch mit wirklichen Schicksalen. Allein Flam, der sich für die Situation verantwortlich fühlte, wenn er es auch lediglich indirekt war, bemühte sich um Schadensbegrenzung in Form einer menschlichen Geste. Begütigend erhob er die Stimme.

»Guter Mann, fassen Sie sich. So etwas kommt bei Rückrufungen vor, wenn auch selten. Es handelt sich um eine Verwechslung, für die wir Diesseitigen keine Verantwortung übernehmen können. Sie sehen sich in meiner Person konfrontiert mit einem ähnlichen Schicksal. Tragen Sie ihre Beschwerde anderen Orts vor, und lassen Sie sich nicht mit faulen Kompromissen abspeisen. Sie haben ein Recht auf Wiedergutmachung, denn ES, das Höchste Wesen«, nun senkte er unwillkürlich die Stimme, »ist nicht unfehlbar. Versuchen Sie bei Ihrer Klageführung als minimale Gegenleistung drei Wünsche täglich auszuhandeln. Lassen Sie davon nicht ab. Letzten Endes wird ES klein beigeben. Vertrauen Sie auf sich selbst. Sie werden das schon hinkriegen.« Er zerrte Robert am Arm weg und zischte: »Laß uns um Gottes Willen verschwinden. Ich will dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Was weiß denn der Pöbel!«

»Sieg Heil!« brüllte der Wiedergänger ihnen hinterdrein.

»Kommts jetzt wieder anders?« lispelte eine Greisin und stimmte zaghaft ein. In der näheren Umgebung reckten sich einige Arme unter noch ungeübt klingendem Ruf. Dem entgegnete eine frenetische Stimme: »Selig sind die Gott schauen, denn das Ende der Welt ist nahe!«

Vor soviel Indoktrination floh die Menge und der Oberst mit ihr erneut in Richtung Freiheit. Diesseits von ihr waren Kräfte freigesetzt, die den Prüfstand für alle Revolutionen bilden. In dialektischer Einheit formuliert sich in solchem Moment das Gute wie das Böse, das Beharrende wie das Progressive, das Kritische wie das Gläubige, jedoch stets mehr Schwachsinn als Genie. Jetzt endlich kam den Obersten eine Ahnung an, daß er auf verlorenem Posten stand. Mit einem letzten Blick erhaschte er Roberts Silhouette. Es war nicht Haß, nur die Einsicht des unabwendbaren Endes, das ihrer beider Schicksal unauflöslich aneinanderkettete. Er akzeptierte, als Gestalter der Geschichte verloren zu haben. Als Mensch konnte er sich nicht damit abfinden.

Die Menge drängte und schrie. Brüder zur Sonne, zur Freiheit. Die schöne, alte Floskel war die Antwort auf alle nicht gestellten Fragen.

»Da haben wir was angerichtet«, sagte Flam. »Heillose Verwirrung. Die Menschen brauchen eine Führung. Sie rennen in ihren Untergang, ins Chaos, wenn nicht Vernunft die Oberhand gewinnt.«

»Vernunft übersetzt der Deutsche mit Disziplin«, höhnte Robert. »Wo das endet, haben wir erfahren.«

»Nennen wir es Verantwortung«, korrigierte sich Flam mit nachsichtigem Unterton.

Robert hörte den Vorwurf heraus. Er wollte sich nicht schuldig fühlen wegen eines Augenblicks der Schwäche, der drei oder vier Jahre zurücklag und der sich mit dem heutigen zu einem Kreis schloß, welcher in seiner vollkommenen Symmetrie nicht nur ein kosmisches, sondern offenbar ein vitales Prinzip darstellte, ein Prinzip der Widersprüchlichkeit allen Seins und dessen dualen Charakters von Wahrheit und Lüge, Chaos und Gesetz, Illusion und Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund schließlich erschloß sich Robert die Dimension des Geschehens mit allen seinen unabwendbaren Konsequenzen, und er erschauerte bis ins Mark, bis in den hintersten Winkel seiner kreativen Phantasie, die er noch niemals in Frage gestellt hatte.

»Kannst du das morgen mit deinem ersten Wunsch nicht rückgängig machen?« Seine Stimme war ein flehendes Flüstern, dem ein letzter Rest von selbstbewahrendem und selbsterkennendem Zweifel anhaftete, die Welt doch für veränderbar zu halten.

»Du weißt, daß profane Wünsche kein Gehör finden«, erwiderte Flam. »Fliegen war möglicherweise das Äußerste. Wir sollten unsere Ressourcen sinnvoll einsetzen.«

Die Menge trug sie vorwärts. Diesem Sog war keine Gewalt gewachsen. Verzweifelt telefonierte der diensthabende Offizier um Ordre. Zufällig war er ein weitsichtiger Mensch. Ihm war klar, daß auf ein spektakuläres Eingreifen der ›Freunde‹ nicht zu hoffen war. Überdies schätzte er die Kampfmoral der Mushiks realistisch als zweifelhaft ein. Sie würde spätestens irgendwo zwischen Paderborn und Übach-Palenberg den Bach runtergehen. Die NATO würde die Brücke bei Remagen halten und zum Gegenschlag ansetzen. Obwohl die Orden schon geprägt waren, gab sich der Offizier hinsichtlich der Offensiv- wie der Defensivkraft der NVA keinen Illusionen hin. Der Leopard II war dem T-72 in mehrfacher Hinsicht überlegen, die Mannschaft überdies motiviert. In schneidigem Panzerraid würden die feindlichen Verbände hinter Salzgitter und bei Spandau die Mauer durchbrechen. Der Anfang vom Ende. Kein eindeutiger Befehl erlöste ihn von der Horrorvision. Die Prikrasse widersprachen einander. Befolgen Sie die Weisungen des Grenzregimes, hieß es. Auf keinen Fall schießen, paralysierte ein anderer, und der Oberstleutnant verstand aufgrund eines göttlichen Hintergrundrauschens in der Leitung: Auf keinen Fall schließen. Er zog die Posten zurück, ließ Schlagbäume und Tore öffnen. Eine Flut ergoß sich in die andere. Transparente wechselten als Souvenir den Besitzer. Von BSE war keine Rede mehr in den Parolen. ›BVG grüßt Brüder und Schwestern‹, ›Fleischerinnung fordert: Rumpsteak für hungernde Landsleute im Osten‹, ›Allen Deutschen freie Fahrt bis Engeland‹, ›Deutschland einig Vaterland! – Wahnsinn‹, hieß es gleich mehrfach.

Freudentränen vereinten sich zum endlosen Strom. Die Welt hätte darin ersaufen können, wären sie nicht auf knochentrockenen märkischen Sand gefallen. Dieses karge, brandenburgische Land hatte das Volk seit Jahrhunderten mit Blut, Schweiß und Tränen gedüngt. Jetzt endlich wollte es auch mal Geschichte machen und die Früchte seines Mutes ernten.

 

»Was tun?« Robert versuchte den Dunst, der sie abends bei Freibier und Gratisbockwurst in einer Westberliner Kneipe einhüllte, mit Blicken zu durchdringen, und Flam erwiderte tiefsinnig: »Es mußte sich etwas verändern. Das war uns beiden doch klar.«

»Schon gut.« erwiderte Robert unwillig. »Aber ich sehe keine ordnende Kraft. Ich sehe nur Gier und Chaos.«

»Was willst du mehr?« frohlockte Flam. »Vor zweihundert Jahren war es nicht anders. Aber immerhin kamen die Menschenrechte dabei heraus. Meine bescheidene Rolle dabei will ich durchaus nicht überbewerten.«

»Du mit deiner revolutionären Erfahrung«, murrte Robert. »Die Franzosen jedenfalls sind korrupt geblieben.«

»Man kann sie nicht erziehen«, entgegnete Flam. »Eine Revolution, die mit dieser Absicht antritt, ist von vornherein verloren. Das ist wie eine Lotterie. Gewinnen werden stets nur Wenige. Man kann die Regeln ändern und die Ausschüttung gerechter verteilen, nun gut. Aber manch einer benützt ein gefälschtes Los. Sind ihrer zu viele, bricht das System zusammen, und ein anderes, vielleicht sichereres muß gefunden werden. Ein neues Spiel, eine neue Chance, ein neues Glück. Rien ne va plus.«

»Das hört sich simpel an.«

»Das ist simpel.«

Zweifelnd wiegte Robert den Kopf. »Ein Drama ließe sich daraus nicht machen. Das Material wäre zu platt.«

»O lala«, rief Monsieur le Marquis aus, »jetzt verleugnest du dich selbst. Es hat dir bereits etliche Male ausgereicht. Denn das Fleisch der Phantasie gedeiht prächtig auf diesem dürftigen Skelett. Es ist die Metapher des Erhabenen. Den Sinn dafür haben wir Franzosen euch Deutschen voraus.«

»Jetzt revanchierst du dich für die nationale Beleidigung«, bemerkte Robert listig. »Letztlich sind alle korrupt und betrügen die Geschichte.«

Flam wehrte ab, schnalzte lediglich vorwurfsvoll mit der Zunge. »Ein Franzose betrügt nicht. Das klingt nicht sehr charmant, Monsieur, und dialektisch ist es auch nicht. Ein Franzose korrigiert das Schicksal, corriger la fortune.«

Robert lachte leicht auf. »Du hast gewonnen, Marquis. Schließlich hast du einen Corneille hinter dir, einen Racine, Moliere, Lesage, Diderot, Beaumarchais. Mit Adam blicken acht Jahrhunderte dramatischer Kunst auf dich herab. Auf mich nur, lassen wir die Osterspiele außer Acht, alle möglichen Heiligen- und Fastenspiele, ja, jaa, Sachs und Gryphius haben ihr Verdienst, Schlegel vielleicht, aber eigentlich beginnt es mit Lessing, Lenz und somit fünfhundert Jahre später.«

»Trinken wir noch einen Gerstensaft«, sagte Flam versöhnlich, »obwohl mir ein guter Roter mehr mundete. Doch so billig schänkt man uns nie wieder ein Bier. Denken wir praktisch und an die Zukunft.«

Ein seriöser Herr nahm ihm die Bestellung ab und lallte: »Herr Wirt, noch eine Lage Bier und Bockwurst für alle.«

»Ist die BSE-frei?« versuchte Robert, als der Dampfriemen vor ihn auf den Tisch gestellt wurde, einen Scherz. Doch die Serviererin lächelte, als hätte er eine Schweinerei von ihr verlangt.

»Du überforderst sie«, sagte Flam. »Die Sache mit der BSE kommt erst in ein paar Jahren auf. Du hast während des Fliegens in einer göttlichen Sphäre geweilt und gewissermaßen einen Blick in die Zukunft getan. Die Wege des Höchsten Wesens sind unergründlich, und außerdem bist du nicht ihr Typ. Also gib dir keine Mühe, den Servierkörper zu beeindrucken« Er seufzte mitfühlend.

»Sie wäre eine Studie, nichts weiter«, verteidigte sich Robert, tunkte das Wurstmonstrum voller Senf und biß in die solchermaßen herzhaft gewürzte Masse.

Um sie herum ereignete sich Geschichte von der Art, die später für keinen Versuch der Heroisierung taugen würde: Der opferreiche Sturm auf die Bastille hatte so wenig stattgefunden wie der auf das Winterpalais. Maos Langer Marsch war lediglich sein eigener Mythus. Allein darin waren die Deutschen weniger talentiert. Sie hatten eben ihr Theater zu spät erfunden.

»Bastards aller Länder vereinigt euch!« dröhnte ein gemischter Chor aus Hanswursten und Aposteln, gehörnten Bösewichtern, Krämerseelen, hurenhaften Jungfraun, Scholaren und Heiligen, Geißlern wie Richtern und intonierte nach diesem Verschwörungszeremoniell mit einer fast vergessenen Melodie einen Text, der mit dem obszönen Refrain endete: «Auf zum letzten Fickfuck!« Das war ein neues Verständnis von proletarischem Internationalismus.

»Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche!« zeterte ein Greis zackig und wetterleuchtenden Augs.

»Das ist echter Pluralismus«, erinnerte sich Robert kauend.

Und Flam, der Welterfahrene, der Zeitenwanderer und Gottvertraute erwiderte tröstlich: »Man kann sich an alles gewöhnen.«

»Und wenn nicht?«

Die Riesenbockwurst in Flams Hand ragte wie ein mahnender überdimensionaler Finger in die Höhe.

Unter der drohenden Vorstellung des Verlustes aller Träume zuckte Robert zusammen und verschluckte sich. Keuchend röchelte er: »Mein Gott, was haben wir angerichtet.«

»Nichts, was wir bereuen müßten. Die Zeit war einfach reif.«

Dankbar holte Robert tief Luft. »Werden wir morgen noch dieselben Menschen sein wie heute oder werden wir uns selbst verleugnen müssen? Werden wir zu den Gewinnern oder zu den Verlierern der Geschichte zählen?«

»Das kommt darauf an«, mischte sich ein Tischnachbar ein, »ob wir die ehemaligen deutschen Ostgebiete zurückerhalten oder nicht. Gestatten, Dr. Werner, Institut für Marxismus-Leninismus.«

»Angenehm«, murmelte Robert verlegen die Floskel, weil sie eine Lüge war. Man stellte sich vor, und Dr. Werner rief angesichts Flams Selbstauskunft begeistert aus: »Ah, ein Kollege!« Der Genosse hatte ihm auf den Lippen gelegen und versank nun in einem verbrüdernden Lächeln. »Darf ich fragen, was Ihr Spezialgebiet ist, Dr. Flamberger?«

»Die Große Französische Revolution.«

»Interessant, hochinteressant!« rief der Kollege aus. »Sind Sie der Meinung, daß man Honecker, Krenz und Konsorten vor ein Tribunal stellen und aburteilen sollte. Die Guillotine steht im revolutionären Leipzig.«

»Das hieße, den Leuten zu viel Ehre anzutun«, erwiderte Flam. »Es war schon bei Louis seize ein Fehler. Der arme Mann war doch mit seinem Amt völlig überfordert. Die wahre Verantwortung tragen all die vielen kleinen Nutznießer, Günstlinge, Parteigänger.«

»Aha, so sehen Sie das«, gab enttäuscht der Genosse von sich. »Sie halten sich wohl für was Besseres?«

»Durchaus nicht«, erwiderte Flam bescheiden. »Aber ich habe mein Soll in dieser Beziehung bereits erfüllt.«

Dem verständnislosen Blick des Gesprächspartners erklärte Robert kurz und bündig: »Im Jahre 1794 wurde er schon einmal geköpft und das unschuldig im Sinne der Geschichte.«

»Irre«, murmelte der Andere, »das sind Irre, und sowas haben wir an unserem Busen genährt.« Verächtlich rückte er ab und widmete sich seinem linken Nachbarn und der Frage, ob man Arbeitsscheuen und Verrückten statt eines schönen Lebens nicht einen schönen Tod gönnen sollte. Deshalb mußte man ja nicht gleich ein Nazi sein.

»Da hast du es«, sagte Robert zu Flam. »Sowas hat jetzt Konjunktur. Sowas wittert Morgenluft. Und es wird noch schlimmer kommen.«

»Sicher.« Mit einer gelassenen Geste unterstrich Flam seine Einsicht.

»Aber du hast das alles doch schon einmal erlitten«, begehrte Robert im Mitgefühl für den Freund auf. »Freiheit, Gleichheit, Und-willst-du-nicht-mein-Bruder-sein-so-schlag-ich-dir-den-Schädel-ein.« Er verschluckte sich vor Erregung.

Flam klopfte ihm ein paar Mal kräftig auf den Rücken. »So etwas kommt in der besten Revolution vor. Was hätten wir heute ohne deren Opfer?«

»Du willst sagen, ohne deines?«

Verlegen zuckte Flam mit den Schultern. Alles, was er hätte bemerken können, hätte den Verdacht des Opportunismus erweckt. Also schwieg er wie in edler Selbstverleugnung, nahm als mageren Trost an den Weinkenner in sich einen Schluck Bier, wischte sich den Schaum vom Mund und blickte in die Runde, als könnte er damit die Bilder der Trauer und der Wehmut, die Erinnerung an seine ein für alle Mal dahin gegangene Welt verdrängen.

»Schau sie dir an. So wirst du sie nie wieder erleben. Noch sind sie voller Erwartung. Doch die Hoffnung wird bald der Gier weichen, dem Neid und der Verachtung. Wenn etwas überlebt, dann könnte es die Erinnerung daran sein, daß Menschen bei aller Verschiedenheit doch gleich sein können, und vielleicht ist dieses winzige Körnchen Wahrheit dereinst der Same für ein neues Selbstverständnis, nicht heute, nicht morgen. Langsam wie die Kontinente verschieben sich die menschlichen Verhältnisse, formen eines Tages eine neue Landschaft.«

»Manche Schönheit wird in den Strudeln versinken«, fügte Robert dem Bild seine Ergänzung hinzu. »Beben werden das Gefilde erschüttern, Magmaströme werden hervorbrechen, und es wird dauern, bis aus der Lava fruchtbare Erde wird. Was für ein schöner Traum.«

Ringsum – besoffen geredet und getrunken – fühlten sich alle frei und gleich und verbrüderten sich. Der gutsituierte Bürger kotzte in den Hut eines Penners. Eine Hausfrau griff einem Ostberliner Studenten zwischen die Beine, und lud ihn zur Gratisnummer ein. Der Schlesische Landsmann am gleichen Tisch war sich mit dem kommunistischen Historiker hinsichtlich der Rückgabe aller Ostgebiete endlich einig geworden. Eigentlich konnten auch die Finnen als halbe Deutsche zählen. Hinter Brillengläsern blitzte alter deutscher Mut, und über allem waberte das Odium der Freiheit. Jeder fraß und soff, soviel er kriegen konnte, und das in dem infantilen Glauben, daß er einen jener seltenen Glücksmomente in der Geschichte erwischt habe, da sie ihm nicht anschließend die Rechnung präsentiert. Seltsame Gerüche zogen durch den Raum. Das teure Parfum verbrüderte sich mit dem billigen. In einer Ecke rauchten ein paar Terroristen Gras und zählten ab, wer von den Spießern dran glauben sollte. Ehne mehne muh, und tot bist du. Sie sahen wirklich so aus, wie Otto und Erna Ballermann sich den Terroristen vorstellen und gehörten eigentlich allein deshalb erschossen oder vergast. Doch Alkoholdunst, Tabaksqualm und die Nebel der Vergangenheit verwischten zu deren Glück die Grenze zwischen Licht und Schatten, zwischen Schein und Sein, zwischen dem Gestern und dem Morgen.

Aus den Bodenritzen kroch The Fog, der Nebel des Grauens, mit ihm die Geister der erschlagenen Kommunisten. Noch immer zeigten die Dielen eine angenehm braunrote Tönung. Denn ‘33 hatte sich niemand die Mühe gemacht, das Blut aufzuwischen. ‘45 hatten die Überlebenden von damals sich dann revanchiert. Naziblut war erstaunlicherweise ebenfalls rot, wenn auch vielleicht mit einem Stich ins Ocker. Ein Fixativ aus Schweiß, Fett, Stiefelwichse, ejaculatio manu facta und Meista Proppa gab dem Ganzen Haltbarkeit und Glanz. Man hielt hier auf Sauberkeit. Der Wirt leerte die vollen Ascher und wischte dem besoffenen Bürger mit einem Lappen die Kotze aus dem Gesicht. Dienst am Kunden.

»So kann es nicht weitergehen«, befand Robert, wenn auch bereits mit schwerer Zunge, so doch um Erinnerung bemüht, die ihm ein vages Bild seiner Sehnsüchte entwarf und ihn drängte endlich zu handeln. Als Konsequenz stand er auf, ging seine volle Blase entleeren, kehrte erleichtert zurück, setzte sich.

»Wo bist du gewesen?.« Flam tauchte mit verdächtig glänzenden Augen aus den Gefilden der Erinnerung auf. Aber das konnte auch am Qualm liegen. Mit einiger Verzögerung ergänzte er: »Natürlich wird es so nicht weitergehen. Von uns allen werden Entscheidungen verlangt werden. Was willst du hören, was du nicht eigentlich selbst wüßtest?«

»Wir werden den unbequemen Altruismus zugunsten eines bequemen Individualismus über Bord werfen«, artikulierte Robert mit immerhin klarem Verstand einen ihm fremden Willen.

»Nur so werden wir willkommen sein«, erwiderte Flam mit großartiger Geste.

»Durch Selbstverleugnung?«

»Allein dadurch!« Flam grinste unbarmherzig.

Auf diese Aussicht hin tranken sie noch drei oder fünf Bier, die wildfremde Menschen ihnen spendierten und gerieten in eine nihilistische Stimmung mit der der moderne Terrorismus seine Berechtigung begründet.

* * *

 

©  trafo verlag 2005