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Leibniz-Sozietät (Hrsg.)

"Kolloquium aus Anlaß des 30-jährigen Bestehens des Arbeitskreises Demographie am 8. Mai 2003"

 

Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät  Band 62, Jg.  2003, 186 S., ISBN 3-89626-463-X, 17,80 EUR

 

 

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30 Jahre Arbeitskreis Demographie

 

Aus Anlass des 30jährigen Bestehens des Arbeitskreises Demographie hatten die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Arbeitskreis Demographie am 8. Mai 2003 in der Humboldt-Universität zu Berlin zu einem ganztägigen Kolloquium eingeladen. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wird seit ca. 2 Jahren ein Schwerpunktprogramm „Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts 'Bevölkerung' vor, im und nach dem 'Dritten Reich'1 unter der Leitung von Prof. Rainer Mackensen betreut.

Während des 20. Jahrhunderts nahm die Wissenschaftsdisziplin der Demographie in Deutschland eine höchst wechselvolle Entwicklung. Ihrem Aufschwung zu Beginn des Jahrhunderts folgten katastrophale Abwege, eine langjährige Stagnation nach dem Krieg und schließlich eine Wiederbelebung im letzten Drittel des Jahrhunderts.

Das erste Drittel des Jahrhunderts war die Zeit des Aufschwungs der De­mographie als Wissenschaft in Deutschland. In dieser Periode ging es den Wissenschaftlern nicht nur darum, die Bevölkerung nach allen erfassbaren Merkmalen zu beschreiben, sondern die Untersuchung der Verursachungszu­sammenhänge stand im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Sie fragten da­nach, ob es Regelmäßigkeiten bzw. Gesetzmäßigkeiten in der Bevölkerungs­bewegung gibt. Wenn ja, welcher Art sind sie? Kurzum, theoretische Ansätze rückten auffallend in den Vordergrund. Nie zuvor und auch nicht später hat es im deutschsprachigen Raum eine solche Flut von ideenreicher Literatur über die Bevölkerungswissenschaft gegeben wie in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts.

Wissenschaftler wie Paul Mombert, Rudolf Goldscheid, Lujo Brentano, Julius Wolf, Karl Kautsky, Otto Most, Julian Marcuse, Franz Müller-Lyer, Alexander Elster, Emanuel Czuber und viele andere versuchten die demogra­phischen Vorgänge und ihre Zusammenhänge mit den wirtschaftlichen und sozialen Gesamtprozessen zu verstehen und der Logik der Bevölkerungsbe­wegung auf die Spur zu kommen. Die wissenschaftlichen Leistungen in die­ser Periode bildeten wertvolle Grundlagen für die Entwicklung der Demographie als Wissenschaft.

Diese Periode des Aufschwungs wurde 1933 jäh unterbrochen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete für die Demographie als Wissenschaft eine Katastrophe im wahrsten Sinn des Wortes. Die Bevölkerungswissenschaft wurde mit der Nazi-Politik verquickt. Das führte zu ihrem Untergang als Wissenschaft. Noch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes konnte sich die Demographie von dieser Katastrophe nicht erholen, Mackensen schildert diese Situation sehr treffend: „Noch in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren erschienen mehrere Bücher über die Beziehungen der Sozialwissenschaften zur NS-Politik, in welchen einige gerade auch der Bevölkerungswissenschaft einen erheblichen Anteil an dieser Politik zugeschrieben haben. Das fand öffentliches Aufsehen und bestätigte eine schon lange latent bestehende Meinung, dass 'die Bevölkerungswissenschaft' in ihrem Kern eigentlich eine nationalsozialistische, rassistische, zumindest faschistische Wissenschaftsrichtung sei.

Die Untersuchung der Entwicklung der Demographie in der NS-Zeit nimmt daher einen zentralen Stellenwert im genannten DFG-Schwerpunktprogramm ein.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlief die Entwicklung der Wissenschaft Demographie in der Bundesrepublik und in der DDR unterschiedlich. In beiden deutschen Staaten wurde die Demographie bis Mitte der 60er Jahre kaum als eine Wissenschaft anerkannt. Die Bevölkerungswissenschaft trug in der DDR nicht nur die schwere Last der Nazi-Vergangenheit und wurde daher mit Skepsis betrachtet. Sie wurde außerdem, wie in allen anderen sozialistischen Ländern, mit dem Malthusianismus gleichgesetzt. Die Malthussche Theorie wurde als „total falsch, fruchtlos und schädlich"2 abgestempelt.

Unter diesen Bedingungen geriet die Demographie als Wissenschaft in der DDR aufs Abstellgleis. Es dauerte 20 Jahre bis zu ihrer Wiederbelebung. Ein erster Lehrstuhl wurde 1966 an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst gegründet. Es sollten danach noch 6 Jahre bis zur Gründung eines Lehrstuhls an einer Universität vergehen. Der 1972 ins Leben gerufene Lehr­stuhl für Demographie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Wirtschaftswissenschaft, war damit der erste seiner Art in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ziel der Gründung war es, die Demographie als eine vergessene Wissenschaft wieder zu beleben. Das bedeutete vor allem, die Zersplitterung der demographischen Forschung in der DDR irgendwie zu überwinden, die Bevölkerungswissenschaftler der DDR stärker mit dem Stand und der Entwicklung der demographischen Forschung auf der internationalen Ebene vertraut zu machen, die Kontakte zu ihren Kollegen in anderen Ländern zu fördern und mit ihnen über Forschungsergebnisse zu diskutieren. Das Forschungsziel des Lehrstuhls bestand in der Ausarbeitung einer marxistischen Bevölkerungstheorie bezogen auf die Weltbevölkerung.

Die demographische Forschung an der Humboldt-Universität zu Berlin entwickelte sich danach zu einem Zentrum der Demographie in der DDR. Allerdings verlief diese Entwicklung alles andere als geradlinig. Die Durchsetzung der gesetzten Ziele stieß auf heftigen Widerstand sowohl in der Universität bzw. in der Sektion und außerhalb der Universität. Der Direktor der Sektion Wirtschaftswissenschaft weigerte sich lange, die Forschungskon­zeption des Lehrstuhls zu genehmigen. Vier Jahre lang haben wir ohne genehmigte Konzeption gearbeitet.

Die Ergebnisse konnten sich trotzdem sehen lassen. Es wurden 25 Artikel in Fachzeitschriften im In- und Ausland publiziert, 28 Veranstaltungen des Arbeitskreises abgehalten und Internationale Konferenzen organisiert. Daran konnte letztlich auch der Sektionsdirektor nicht mehr vorbeisehen. Er stimm­te unserer Konzeption schließlich 1976 zu.3

Außerhalb der Humboldt-Universität stießen unsere Forschungsansätze vor allem bei den Kollegen der Hochschule für Ökonomie aber auch an der Akademie der Wissenschaften (Institut für Soziologie und Sozialpolitik) auf Ablehnung. Sie brandmarkten unsere Forschungsergebnisse als Konvergenz und lehnten sie kategorisch ab.

Auch diese Herausforderung konnten wir überstehen. Das verdanken wir in erster Linie unserer eigenen intensiven und kontinuierlichen Forschung, aber auch der Standhaftigkeit der Mitarbeiter des Lehrstuhls sowie der ständigen Unterstützung durch unseren unmittelbaren Vorgesetzten Prof. Dieter Klein.

Es verdient in diesem Zusammenhang auch Erwähnung, dass das Jahrbuch Wirtschaftsgeschichte, das Redaktionskollegium und der Chefredakteur Prof. Jan Peters sich sehr stark für unsere, ihrer Meinung nach, unkonventionelle Forschung interessierten. Das Redaktionskollegium organisierte wiederholt Foren für Diskussionen über unseren Standpunkt.4

 

 

Einige kurze Bemerkungen zur Geschichte des Arbeitskreises

 

Der Arbeitskreis Demographie wurde im Januar 1973 gegründet.

Bereits lange vor der Gründung des Lehrstuhls Demographie wurde in der DDR eine umfangreiche demographische Forschung geleistet. Dennoch war die Forschung vereinzelt und zersplittert. Die Forschungsergebnisse waren zumeist nur einem kleinen Kreis bekannt. Es fehlte an Kontakten zwischen den Forschern, und damit gab es keinen breiten Meinungsaustausch, der für die Entwicklung einer Wissenschaft die elementare Voraussetzung bildet.

Der Arbeitskreis Demographie sollte helfen, diese Lücke zu füllen. Er stellte sich zunächst die Aufgabe, eine Kontaktstelle zu sein, ein Treffpunkt für die Demographen bzw. für jene Wissenschaftler, die sich mit der demo­graphischen Forschung beschäftigten, um ihre Forschungsergebnisse in ei­nem breiteren Kreis zur Diskussion zu stellen.

Solche Fachleute wie Inge Leeds, Karl-Heinz Mehlan, Bernhard Kreuz, Lucie Osadnik, Siegbert Fröhlich und später Wulfram Speigner, Jürgen Schott, Emil Magvas traten wiederholt im Arbeitskreis auf.

Der Arbeitskreis sollte die Kontakte von DDR-Demographen zu ihren Kollegen in anderen Ländern fordern. Bereits wenige Monate nach der Grün­dung des Arbeitskreises durften wir zwei renommierte Demographen aus der Sowjetunion begrüßen: Aron Bojarski von der Lomonossow-Universität und Boris Urlanis von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR.7 Später wurden die Beziehungen mit den Demographen der Lomonossow-Universität erweitert. Viele sowjetische Demographen wie Yaropolk Guzewaty, Dimitri Valentei, Anatoli Wischnewski, Anatoli Sudoblatov, Alexander Kwasha sind wiederholt als Referenten im Arbeitskreis aufgetreten. Auch die Beziehungen mit Polen, Rumänien, der CSSR und Bulgarien wurden intensiviert. Wir wollten nun noch einen Schritt weiter gehen und das Tor auch in Richtung Westen öffnen.

1975 gelang es uns schließlich, den ersten Gast aus Frankreich in unseren Arbeitskreis einzuladen: Gerard Calot, Direktor des Institut National d'Etude Demographiques Paris. Ein paar Monate später referierte Alfred Sauvy im Arbeitskreis. Später durften wir weitere Gäste aus seinem Institut empfangen: Jean Bourgeois-Pichat, Roland Pressat, Jaqueline Hecht, Jean-Noel Biraben, Jacques Houdaille, Jean-Claude Chesnais und manche andere. Außer­dem traten so renommierte Demographen wie Tapani Valkonen (Finnland), Erland Hofsten (Schweden) und Eugene Grebenik (England) im Arbeitskreis auf. Der Arbeitskreis Demographie entwickelte sich damit zu einem Treffpunkt zwischen Demographen aus West- und Ost-Europa. Die internationalen Kontakte trugen zum Renommee des Lehrstuhls Demographie an der Humboldt-Universität bei.

Der Arbeitskreis hat auch eine Brücke zwischen Ost- und Westdeutschland geschlagen. Seit etwa 1980 konnten wir mehrere Kolleginnen und Kollegen aus der Bundesrepublik und West-Berlin in unserem Arbeitskreis begrüßen.

Aus dem Schoß des Arbeitskreises entstanden zwei demographische Institutionen. Die erste und in ihrer Art einmalige Institution war das IDS (In­ternationales Demographisches Seminar). Bereits im ersten Jahr der Tätigkeit des Arbeitkreises hatte sich herausgestellt, dass manche demographische Themen und vor allem die theoretischen wegen ihrer Komplexität nicht im begrenzten Rahmen des Arbeitskreises diskutiert werden konnten. Es wurde erforderlich, bestimmte Probleme in einem breiteren Kreis der internationalen Fachleute, also in einem Symposium oder in einem internationalen Semi­nar zur Diskussion stellen.

Auf der 16. Tagung des Arbeitskreises, am 26. September 1974, wurde der Lehrstuhl beauftragt, über die Gründung eines internationalen Gremiums mit der Sektionsleitung bzw. mit der Universitätsleitung zu verhandeln. Mit der Unterstützung von Dieter Klein (damals Bereichsleiter), Gerhard Engel (da­mals Prorektor der Humboldt Universität) und Arno Donda (damals Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik) wurde das erste internationale demographische Seminar vom 16. bis 18. Dezember 1974 unter Beteiligung von etwa 90 Wissenschaftlern, darunter etwa 20 Ausländern, im Senatssaal der Humboldt-Universität durchgeführt.9 Diese Seminare waren im wahrsten Sinne des Worts international. Bis 1992 wurde alle zwei Jahre ein Internatio­nales Demographisches Seminar durchgeführt.

Das zweite Kind des Arbeitskreises war die Gesellschaft für Demographie, die sich über 10 Jahre einen guten Namen erworben hat. Sie ging vor zwei Jahren in der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft auf.

Nach der „Wende" 1990 und der Auflösung der zwei demographischen Zentren an der Akademie der Wissenschaften und der HfÖ hatte auch der Ar­beitskreis große Schwierigkeiten. In den Neuen Bundesländern hörte die de­mographische Forschung für eine Weile nahezu auf. Dennoch haben sich einige Kollegen engagiert, darunter Charlotte Höhn, Gerhard Gröner, Rainer Mackensen, Eckart Eisner u. a.

Seit Dezember 2000 hat sich der traditionsreiche Arbeitskreis der Leibniz-Sozietät angeschlossen und befindet sich in einer neuen Phase seiner Entwick­lung. Inhaltlich wird er Fragen der Bevölkerungsgeschichte und der Bevölkerungstheorie in den Vordergrund seiner Tätigkeit stellen und auch die demographische Forschung in der DDR im Zeitraum von 1969 bis 1990 kri­tisch analysieren, um so zur Aufarbeitung der Vergangenheit beizutragen. So viel in aller gebotenen Kürze zur Geschichte des Arbeitskreises.

Im vorliegenden Band werden die auf der Tagung des Arbeitskreises am 8. Mai 2003 gehaltenen Referate sowie zwei weitere Studien vorgestellt: Nach dem Grundsatzreferat von Rainer Mackensen, der einen Überblick zum Stand des DFG-Schwerpunktprogramms gab, präsentierte Rainer Karisch Zwischenergebnisse seiner Forschungen zur Entwicklung der Demographie in der DDR. Er schilderte die schwierige Geburt der Demographie in Ost­deutschland, ihre Kinderkrankheiten und vor allem die ideologischen Ausein­andersetzungen Ende der 70er und in der ersten Hälfte der 80er Jahre. Jürgen Dorbritz analysierte kritisch das Konzept der Familienpolitik der DDR, erläu­terte ihre Entwicklungsetappen und charakterisierte ihre Merkmale.

Reiner H. Dinkel referierte zur Thematik der Sterblichkeitsentwicklung im geeinten Deutschland. Die Hauptursache der Sterblichkeitsunterschiede zwischen West und Ost vor der Wende sieht Dinkel in der unterschiedlichen Methodik der Erfassung. Nach der Wende bildeten sich die Unterschiede schnell zurück. Einzige Ausnahme ist die höhere Sterblichkeit bei jüngeren Menschen in den Neuen Bundesländern, die Dinkel auf die relativ höhere Zahl der Verkehrstoten zurückführt.

Robert Lee beschäftigte sich in seinem Referat mit der Sterblichkeitsstatistik in Deutschland im 19. Jahrhundert. Er hob hervor, dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts jedes statistische Landesamt seine eigene Erfassungsmethodik hatte, was die Vergleichbarkeit der Daten erheblich erschwert.

Ursula Ferdinand referierte zur Thema: Systematisierungen der Geburtenrückgangstheorien um 1930. Sie diskutierte die Theorien zahlreicher prominenter Wissenschaftler wie Paul Mombert, Julius Wolf, Roderich v. Ungern-Sternberg zur Erklärung des Prozesses des Geburtenrückgangs.

Darüber hinaus präsentieren wir in diesem Heft zwei Artikel zur Bevölkerungsgeographie. Beide Studien wurden auf vorangegangenen Sitzungen des Arbeitskreises im Jahr 2002 vorgestellt. Ursula Kück und Hartmut Fischer befassen sich mit Migrationsströmen und -bilanzen: Mecklenburg-Vorpommern im Vergleich, und Wolfgang Weiß stellt einen bevölkerungsgeographischen Nachruf vor.

 

Anmerkungen

1    Siehe das Referat von Rainer Mackensen in diesem Heft.

2    Timon W. Ryabushkin, World Population Conference 1954. Vol. V Meeting 28. Pp.1032-1038.

3    Ausführlich; Siehe das Referat von Rainer Karisch in diesem Heft.

4    Siehe z. B, Jahrbuch Wirtschaftsgeschichte 1981/3.

5    Ausführlich siehe: Parviz Khalatbari, Zur Geschichte des Arbeitskreises Demographie. In: Sitzungsberichte der Leibniz Sozietät, Band 51, Jahrgang 

2001, Heft 8. S. 153-162.

6      Aron Bojarski referierte am 23. März 1973 im Arbeitskreis zum Thema „Stabile Bevölkerung."

7      Boris Urlanis referierte am 24. Mai 1973 im Arbeitskreis zum Thema „Effektivität der Bevölkerungspolitik in der UdSSR."

8      Gerard Calot referierte am 26. November 1975 im Arbeitskreis über „Die aktuelle demographische Situation in Frankreich."  

9     Siehe: Zu Problemen der Demographie. Internationales Demographisches Symposium, Berlin Dezember 1974. Akademie Verlag. Berlin 1975.

 

 

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