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Melchert, Monika (Hrsg.)

Cläre M. Jung: Aus der Tiefe rufe ich. Texte aus sieben Jahrzehnten

[= Spurensuche. Vergessene Autorinnen wiederentdeckt, Bd. 4], trafo verlag 2004, 270 S., ISBN (10) 3-89626-432-X, ISBN (13) 978-3-89626-432-9, 39,80 EUR

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REZENSIONEN

Zum Inhalt

Die Berliner Schriftstellerin und Publizistin Cläre M. Jung (1892-1981) fand in den Jahren um den ersten Weltkrieg zu den jungen expressionistischen Dichtern um die Zeitschrift „Aktion“ (Franz Pfemfert) Kontakt und lernte dort ihren späteren Mann Franz Jung kennen. „Kameraden“, Titel sowohl eines Romans von Franz Jung wie eines Bildes von Georg Schrimpf, wurde zum Sinnbild dieser Künstlerfreundschaften im Umbruch. Ihr ganzes Leben widmete sie fortan den revolutionären Aktionen in Deutschland und in Sowjetrußland, wohin sie mit Franz Jung 1921-1923 ging, um am Aufbau einer vollkommen veränderten Gesellschaft teilzuhaben. Dort fand sie den Stoff zu ihrer Erzählung Stanislaw Tscherwinsky, die sie 1932 schrieb: die Geschichte eines polnischen Juden, dessen Bruder bei Pogromen umkommt und der in die Sowjetunion emigriert. Dieser Text, bisher noch nie gedruckt, wird im vorliegenden Band der Reihe „Spurensuche“ erstmals aus dem Nachlaß zugänglich gemacht.

In den zwanziger Jahren gab sie zunächst mit Franz Jung eine Wirtschaftskorrespondenz sowie einen Feuilletondienst heraus, die sie später – nach der Trennung von Jung – mit Felix Scherret bis 1944 weiterführen konnte.

Während der Zeit des Nationalsozialismus hat Cläre M. Jung vielen Genossen und Freunden in Not geholfen, hat Verfolgte bei sich aufgenommen und zwei ehemaligen jüdischen Schulkameradinnen zur Flucht aus Hitlerdeutschland verholfen, indem sie ihnen ihren Paß und Ausweispapiere gab. Gleich nach Kriegsende schrieb sie eine Roman-Chronik mit dem Titel Aus der Tiefe rufe ich, die der Aufbau-Verlag Berlin 1946 veröffentlichte. Darin verarbeitet sie die Schicksale jüdischer Mitmenschen im Berlin des NS unter der stetig zunehmenden Bedrohung und Verfolgung bis hin zur Deportation. Die Autorin schildert authentische Erfahrungen und  Lebenswege befreundeter jüdischer Menschen – bekannter Wissenschaftler, junger Frauen mit Kindern, wohlhabender Unternehmer, ganzer Familien. Auch ihre gewagte Rettungsaktion der beiden Schulfreundinnen, mit der sie das eigene Leben aufs Spiel setzte, ohne davon viel Aufhebens zu machen, nimmt dabei Gestalt an: „Man kann sich das Leben nicht aussuchen, das man retten muß.“ Cläre M. Jung ist entgegen der weit verbreiteten Position der Ohmacht, man könne ja gegen die übermächtige Gewalt nichts tun, der Ansicht, es lohne immer, sich zur Wehr zu setzen und Leben vor der Vernichtung zu bewahren – und sei es das eines einzigen Menschen.

Sie beschreibt, wie die Menschen unter der Nazidiktatur sich verhielten; wie die Berliner Bevölkerung auf die „Reichskristallnacht“, das Pogrom vom November 1938 reagierte; wie die Menschen hinschauten bzw. wegsahen, als die ersten Kolonnen jüdischer Zwangsarbeiter im Stadtbild auftauchten, zumeist Angehörige „geistiger Berufe“, Wissenschaftler, Rechtsanwälte, Künstler, die auf den Bahnstrecken die Schottersteine auflockern mit schweren Hacken, die sie ungeschickt handhaben. Das fiel schließlich auf, das war 1938 noch ungewohnt, davor konnte man nicht die Augen verschließen. Und doch sagen selbst Ehepaare zueinander: ich bitte dich, schau nicht hin, sprich leise, man könnte uns hören ... Die Angst breitet sich aus, das Bestreben, nicht aufzufallen, sich nicht von der schweigenden Masse zu unterscheiden. So funktioniert die Unterwerfung. Anpassung wird zum Hauptverhaltensmuster der Zeitgenossen. Cläre M. Jung zeigt das, nicht denunziatorisch oder besserwisserisch, sondern getreu den realen  Umständen.

Dieses seit beinahe 60 Jahren nicht mehr aufgelegte Buch, längst aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit verschwunden – wie auch der Name der Autorin selbst –, wird nun wieder zugänglich gemacht. Damit soll eine Autorin der Nachkriegszeit neu entdeckt werden, die eine wichtige Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts und eine unverzichtbare Chronistin entscheidender Phasen der deutschen Geschichte war.

Mitte der 50er Jahre schrieb Cläre M. Jung ihre Lebenserinnerungen nieder, die 1988 unter dem Titel Paradiesvögel bei Nautilus in Hamburg erschienen. Dabei wurden die Erinnerungen bis Mai 1945 veröffentlicht, während die der folgenden Jahre bis 1955 noch ungedruckt im Manuskript im Nachlaß (Archiv des Stadtmuseum Berlin) liegen.

Der Band enthält außerdem Auszüge aus Cläre M. Jungs Erinnerungs-Skizzen Bilder meines Lebens, einen Nachdruck des Gesprächs von Sieglinde und Fritz Mirau mit Cläre M. Jung von 1977, ein ausführliches Nachwort der Herausgeberin, einen Beitrag der Archivarin Ulrike Griebner zum Bestand des C-J-Nachlasses im Stadtmuseum sowie ein Literaturverzeichnis.

 

Monika Melchert

 

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