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Monika Melchert (Hrsg.)

Susanne Kerckhoff (1918–1950). Vor Liebe brennen. Lyrik und Prosa

[= Spurensuche. Vergessene Autorinnen wiederentdeckt, Bd. 3], trafo verlag 2003,  266 S., ISBN (10) 3-89626-405-2, ISBN (13) 978-3-89626-405-3, 39,80 EUR

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Zu den Rezensionen

 

Zum Inhalt:

Eine junge Berliner Schriftstellerin trat auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß 1947 voller Selbstbewußtsein ans Mikrofon und erwiderte auf die vorausgegangene Rede Günther Birkenfelds, sie sei nicht bereit, Entschuldigungen für die Autoren der inneren Emigration zu sammeln, und sie insistierte, „daß ein Dichter, mag er nun das Zeitwort finden oder nicht oder mag er Liebesgedichte schreiben oder mag er Blumenmotive malen, doch den Punkt nicht verlieren darf, wo er sich einschalten muß. Sonst ist das Liebeslied und das, was er über Blumen schreibt, oder alles, was er schreibt, Lüge. Wenn die Menschen den Kontakt verlieren mit dem politischen Leben, dann müssen sie das nachher furchtbar bezahlen. Und gerade der Schriftsteller darf diesen Kontakt mit dem politischen Leben nicht verlieren.“ Diese junge Frau, Susanne Kerckhoff (1918–1950), spielte in den wenigen ersten Jahren nach Kriegsende im literarischen Feld Berlins eine nicht unbeträchtliche Rolle – als Dichterin, als Publizistin, als politische Stimme. In ihrer Rede auf dem Kongreß fuhr sie fort: „Und ich glaube, wir sind uns doch eigentlich alle im wesentlichen darüber klar, wie wir leiden darunter, daß wir nicht das Wort gefunden haben, daß wir nicht illegal gekämpft haben – die, die wir es eben nicht getan haben. Und diese Scham, die so furchtbar ist und uns zu einer Verzweiflung führt, die sagt uns, daß wir heute auf jeden Fall wachsam sein müssen, eine Art Widerstandsbewegung – nicht nur über die Widerstandsbewegung zu schreiben, auf die wir stolz sind, sondern auch selbst eine Art Widerstandsbewegung sein gegen alles Unrecht und furchtbar darauf aufpassen, daß uns das nicht wieder passiert, daß wir uns so schämen müssen.“[1] In diesen wenigen Sätzen sind bereits wichtige Signalbegriffe enthalten, die Susanne Kerckhoff zu charakterisieren vermögen: Scham, Verzweiflung und ein erklärter Veränderungswillen. Da stellt sich die Frage, ob sie denn Grund hatte, die Scham auf sich als Person zu beziehen. Und sie spricht auch, an einem anderen Tag des Schriftstellerkongresses, von der verhängnisvollen Isolierung vieler Autoren während der Nazizeit. Sie wolle „den Kongreß nur daran erinnern, daß jetzt der Anfang getan ist, daß wir uns nie wieder so allein lassen.“[2] Beifall und Bravorufe, die diese Worte auslösten, müssen ihr bestätigt haben, daß sie auf dem richtigen Weg war.

Susanne Kerckhoff, eine zierliche, dunkelhaarige Frau, war damals gerade neunundzwanzig Jahre alt. Sie hatte ein kleines Haus im Köpenicker Ortsteil Karolinenhof, in der Rohrwallallee am Langen See, das ihr und ihrem Mann trotz der Kriegswirren als Sommerzuflucht geblieben war. Nach ihrer Ehescheidung wohnte sie allein dort am südöstlichen Stadtrand Berlins. Wer war diese heute fast vergessene Autorin? Als junges Mädchen bereits hatte sie einen Lyrik-Preis der Zeitschrift „Die Dame“ bekommen und war von Erich Kästner geschätzt und gefördert worden. Während des Krieges hatte sie dann drei eher konventionelle, jedenfalls im Sinne der Reichsschrifttumskammer unpolitische Mädchenromane veröffentlicht[3]. So konnte sie nicht für sich in Anspruch nehmen, zur Inneren Emigration zu zählen. Dennoch, ihre Herkunft hatte andere Spuren gelegt. Als Tochter des Literaturhistorikers Walther Harich und der Musikerin Eta Harich-Schneider war sie in einem 3bürgerlich-liberalen Elternhaus aufgewachsen und hatte sich als Schülerin der Sozialistischen Arbeiterjugend angeschlossen. Nun nach 1945 wollte sie sich bekennen und sich prononciert in den Prozeß der geistigen Erneuerung Deutschlands einbringen. Wie ihr jüngerer Halbbruder, der Philosoph Wolfgang Harich, engagierte sie sich kulturpolitisch in Ostberlin – so im Vorstand des SDA (Schutzverband Deutscher Autoren) und des Demokratischen Frauenbundes DFD. Zunächst war sie mit ihrem Ehemann, dem Buchhändler Hermann Kerckhoff, in die britische Besatzungszone gegangen und, wie er, der SPD beigetreten. Da sie dort ihre politische Heimat nicht fand, trennten sich 1947 die Wege der Eheleute politisch wie privat. Susanne Kerckhoff ging in den sowjetischen Sektor von Berlin und wurde Mitglied der SED. Nach einer kurzen Mitarbeit bei der satirisch-politischen Wochenzeitung „Ulenspiegel“ war sie dann ab 1948 bis zu ihrem frühen Tod Redakteurin und Feuilletonleiterin der „Berliner Zeitung“. Ihr Unbedingtheitsanspruch, mit dem sie von nun an allem begegnete, hat es ihr schwergemacht, sich anzupassen. Es lohnt sich auch heute noch, sich an sie zu erinnern.

In den wenigen Jahren zwischen Kriegsende und 1950 erschienen vier Bücher von Susanne Kerckhoff: Der Roman „Die verlorenen Stürme“ (1947), in dem sie sich mit ihrer Sozialisation als Mädchen, mit den Prägungen ihrer eigenen Jugend in der Weimarer Republik und zu Beginn der Nazizeit auseinandersetzt; die „Berliner Briefe“ (1948, beide im Wedding Verlag), ein Buch in der Form halb authentischer, halb literarischer Briefe an einen emigrierten jüdischen Jugendfreund in Paris; schließlich zwei Gedichtbände, „Das innere Antlitz“ (1946, Cecilie Dressler Verlag) sowie „Menschliches Brevier“ (1948, Verlag Lied der Zeit). Vor allem versuchte sie sich als Lyrikerin zu profilieren. Wenige Wochen vor ihrem Tod war der Mitteldeutsche Verlag Halle dabei, einen dritten Gedichtband der Autorin unter dem Titel „Zeit, die uns liebt“ vorzubereiten. Er erschien dann 1950 posthum als ein „Gedenkbuch für Susanne Kerckhoff“. Manchen Kritikern galt sie als eine der stärksten literarischen Begabungen der Nachkriegszeit, Arnold Zweig und Paul Rilla schätzten ihre Gedichte. („Es war Herbst, als Du sie in unserem Garten vorlasest, und dort, wo Deine Blicke durch entlaubtes Geäst den Himmel suchten, duften jetzt die veilchenfarbenen Dolden des Flieders“, schrieb der Freund Arnold Zweig in seiner Trauer über sie.) In ihnen wollte sie sich sowohl als politische Zeitzeugin wie auch als liebende Frau aussprechen. Ihre Gedichte sind geprägt durch das Verhältnis von revolutionärem Pathos und leidenschaftlicher Liebe, das sich für sie nie ganz zur Deckung bringen ließ. Die zum Teil sehr schöne, liedhafte Lyrik bestimmt die eine Seite ihres Schaffens. Davon zeugen mehrere Vertonungen ihrer Gedichte, u. a. in jüngster Zeit von Tilo Medek. Naturbeziehung, Sehnsucht nach dem Geliebten und die Mutter-Kind-Beziehung dominieren darin. Zum anderen verstand Susanne Kerckhoff ihren Auftrag als politisch wache Zeitgenossin auch in einem ganz direkten Engagement mit tagespolitischen Gedichten. Genau hier aber verletzte sie ein Schaffensgesetz ihrer Lyrik, sie wurde flacher und pathetisch, verlor an Subjektivität und innerer Authentizität. Ähnlich wie es einmal der Dichter Stephan Hermlin für sich beschrieben hatte, brachte der Wunsch, im direkten Sinne politisch wirken zu wollen, ästhetische Einbußen im lyrischen Schaffen mit sich. Susanne Kerckhoff stieß dabei auf Widersprüche, die sie auch mit der Kulturpolitik ihrer Partei in Konflikt brachten. Sie war eine Frau, geradlinig und unverbogen, die keine Vorwände als Ausflucht gelten lassen konnte, gerade in der Sache, der sie sich mit Haut und Haar verschrieben hatte. So bestand sie darauf, auch Genossen und Widerstandskämpfer dürften nicht von vornherein als unkritisierbar gelten nur auf Grund ihrer politischen Haltung. Ohne Selbstschonung übte sie beispielsweise an der Haltung junger Autoren Kritik, die glaubten, allein die richtige Einstellung mache sie schon zu guten Literaten[4]. Sie, die während der Nazizeit auch Kompromisse gemacht hatte, wollte nun kompromißlos sein. Sie stellte sich der selbstgewählten politischen Aufgabe vorbehaltlos. Auch daran zerbrach sie schließlich. Als sie glaubte, in einer ausweglosen Situation zu sein und nicht mehr die Kraft aufzubringen, die in ihr widerstreitenden Konfliktpole zur Deckung bringen zu können, wählte Susanne Kerckhoff im März 1950 in Karolinenhof den Freitod. Damals fühlte sie sich ganz allein, ihre drei Kinder waren nach der Scheidung dem im Westen lebenden Vater zugesprochen worden; der Geliebte, ein verheirateter politischer Funktionär, konnte oder wollte sich nicht frei machen. Die Sehnsucht nach menschlicher Bindung und Wärme, die sich nicht erfüllte, machte sie hilflos und verletzbar. Auf Fotos aus jungen Jahren, gerade unmittelbar nach dem Kriegsende, sieht man sie glücklich lachen. Dieses Strahlen aus dem Inneren heraus verliert sich sichtbar auf den späteren Bildern.

Ein dunkler, zu Verzweiflung und Schwermut neigender Gestus ist nicht nur in vielen ihrer Gedichte ablesbar, sondern bestimmt auch schon früh ihre Lebensäußerungen. Davon zeugt unter anderem ein jugendlicher Selbstmordversuch. Nun, auf dem Höhepunkt ihrer kulturpolitischen Einbindung in die Kämpfe der jungen DDR, brach sie zusammen. Die erzwungene Trennung von den Kindern hatte dazu ebenso beigetragen wie die Liebesbeziehung mit Georg Stibi, die sich eben nicht als dauerhafte Verbindung realisieren ließ. Auch dabei spielten politische Rücksichtnahmen eine Rolle. Und schließlich hatte eine Affäre um die Kritik an Nico Rosts Buch „Goethe in Dachau“, die für sie mit einer Rüge durch ihre Partei endete, sie zu viel Kraft gekostet[5]. Von diesen Wesenszügen legt ein Gedicht Susanne Kerckhoffs Zeugnis ab, das in ihrer letzten Lebenszeit entstanden ist:

 

 

Schwermut

 

Sie läßt mich zu den Brüdern nicht,

umklammert meine Finger,

verdunkelt mir das Herzenslicht,

beengt mich. Noch geringer

 

verlangt sie mich, genau so schwach

wie Trinker sondern Willen

und nährt mich aus dem Gallenbach,

zwingt mir Gespenst und Grillen

 

und kreisend welke Klage ein

und lügt, mir wär’ es schlimmer

als andern zugedacht, die Pein

verböge mich und immer

 

behielt’ ich sie. Und schließt die Wand

um mich: du bist alleine.

Sie kichert hinter ihrer Hand

verstohlen, weil ich weine.

 

So hat sie mich seit manchem Jahr

zu Aufenthalt und Wahn getrieben.

Wird sein auch diesmal, wie’s vordem war:

ich entkam ihr, die Menschen noch

fester zu lieben.

 

 

Ein Gedicht solchen Inhalts wurde natürlich nicht auf den Kulturseiten der „Berliner Zeitung“ abgedruckt, wo sonst neben ihren Artikeln eine ganze Reihe ihrer Gedichte und Kurzgeschichten standen, auch nach ihrem Tod noch. Dagegen begleiteten Susanne Kerckhoffs Beiträge zum Berliner kulturellen Leben, zu Fragen von Literatur, Theater und bildender Kunst den Leser der Zeitung engagiert und zuverlässig.

Im Januar 1949 veröffentlichte sie ein Interview mit Anna Seghers, die sie wohl im Vorstand des Schriftstellerverbandes kennengelernt hatte. Unter dem Titel „Durch Zeiten und Länder. Ein Gespräch mit Anna Seghers über ihre Bücher und Pläne“ befragt sie die bekannte Schriftstellerin nach der Entstehung ihrer Bücher in den Jahren des Exils und danach, welche davon dem deutschen Publikum bereits zur Verfügung stehen. Anna Seghers zählt die wichtigsten Veröffentlichungen auf – ausdrücklich nennt sie „Das siebte Kreuz“, „Die Rettung“ sowie „Der Ausflug der toten Mädchen“ – und gibt auch einige Informationen zu dem „großen Geschichtenband“, an dem sie gegenwärtig arbeite und dessen einzelne Teile „durch eine Rahmenhandlung miteinander verbunden“[6] sein werden – gemeint ist der Geschichtenkreis „Der Bienenstock“. Besondere Erwähnung findet der Exilroman „Transit“. Ein Hauptteil des Interviews beschäftigt sich allerdings mit Fragen nach dem politischen Engagement von Schriftstellern. Die Interviewerin fragt mehrfach etwa: „Was meinen Sie dazu, wenn man von Ihnen erwartet, direkt und täglich Stellung zu nehmen?“; „Man hat Ihnen kürzlich in einer Zeitung vorgeworfen, Frau Seghers, daß Sie im ‚Niemandsland’ arbeiten, weil Sie nicht alle Tagesfragen sofort in Dichtung umsetzen?“; oder: „Sind Sie der Ansicht, daß man Schriftstellern das Wort zum Tage abverlangen kann?“ Auf den erwähnten Vorwurf einer Zeitung entgegnet die Befragte schlagfertig: „Ich habe das nicht gelesen. Wenn ein Schriftsteller mit allen Menschen zusammenhängt, schreibt er auch, was sie angeht. Wenn er ohne Zusammenhang arbeitet, spinnt er.“ Anna Seghers als international anerkannte und in der Friedensbewegung hochgeachtete Künstlerin hat dazu eine feste Position. Sie drückt unmißverständlich ihre Meinung aus, daß wirklich gute Geschichten, mögen ihre Themen noch so entfernt scheinen, in Wirklichkeit ganz naheliegend sind. Während also Anna Seghers gelassen, eher lapidar auf die Fragen der Jüngeren eingeht, insistiert Susanne Kerckhoff und kommt im Gespräch immer wieder auf diese Problematik zurück. Gerade daraus wird ersichtlich, wie stark sie selbst eben jene Fragen beschäftigen, aus denen ihr innerer Zwiespalt erwächst. Sie will sich ja politisch bekennen, mit ihrer Literatur, ihren Gedichten der Sache ihrer Partei in einem funktionalen Sinne nützlich sein. Zugleich spürt sie jedoch zunehmend, daß ein solches vordergründig politisches Verpflichtetsein der Entwicklung ihrer künstlerischen Ausdruckskraft nicht eben förderlich ist. Einige ihrer Gedichte, die in den Jahren 1948 und 1949 auf den Kulturseiten der „Berliner Zeitung“ veröffentlicht werden und in denen sie den Friedenswillen und die Aufbaukraft des jungen sozialistischen Staates thematisiert, legen davon beredtes Zeugnis ab – erwähnt sei als Beispiel nur der Text „Nüchternes Lied“[7]. Dabei hatte Susanne Kerckhoff, als sie sich als Literaturkritikerin in die heftig geführte Diskussion um die Gedichte einer anderen jungen Lyrikerin einschaltete, die Position des Subjektiven und Emotionalen vehement verteidigt: es ging um die „Terzinen des Herzens“ von Annemarie Bostroem, die 1947 mit großem Erfolg erschienen waren, von männlichen Kritikern jedoch ob der ihnen übertrieben erscheinenden weiblichen Hingabefähigkeit und angeblichen Zeitferne attackiert wurden. Das forderte Susanne Kerckhoffs Widerspruch heraus, vor allem gegen den Vorwurf des nur Privaten in Bostroems Liebesgedichten, und sie schrieb: „Ein gutes Gedicht ist niemals privat. Wenn es gelungen ist, das Private in künstlerische Form zu prägen, ist es nicht mehr privat.“[8] Mit diesem Plädoyer verteidigt sie letztlich ihre eigene Intention, daß erst die Verbindung von Persönlichstem und Öffentlich-Gesellschaftlichem als künstlerischer Ausdruck der neuen Zeit angemessen sei. In der weiteren Debatte fährt sie fort: „Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen: politische, soziale Themen sind notwendiges, geistiges Brot. Ich stelle mich gewiß nicht gegen Bert Brecht oder gegen die geformten, klaren Zeitgedichte eines Erich Weinert. Aber ich muß es doch noch einmal wiederholen: Wie Sie die dichterische Gewalt der Bostroem wegen der Wahl des Themas und einiger Entgleisungen abtaten – wie andererseits eine Überfülle künstlerisch fragwürdiger Zeitgedichte zu Verbreitung und Höhe dirigiert werden, daß die progressive kulturelle Entwicklung dabei nur Schaden erleidet [...]“[9]. So rigoros urteilt die Literaturkritikerin Susanne Kerckhoff. Doch in der Praxis mißtraut sie offensichtlich zuweilen ihrem eigenen Credo.

Ob Susanne Kerckhoff literarisch von Anna Seghers gelernt hat, ist nur zu vermuten. Mit Sicherheit aber hat der Lebensweg dieser großen integeren Schriftstellerin sie beeinflußt. Die Geschichte jüdischer Frauen in der Nazizeit inspirierte sie zu einer ihrer besten Prosaarbeiten: „Die verbrannten Sterne“. Obgleich Susanne Kerckhoff in ihrer eigenen Familie nicht mit den Schrecknissen des Holocaust konfrontiert war, muß sie doch das jüdische Schicksal stark bewegt haben, wie die „Berliner Briefe“ bezeugen und nicht zuletzt ihr Roman „Die verlorenen Stürme“, den sie „den mir verschollenen Kameraden“ widmet und worin sie ihren jüdischen Mitschülerinnen des Gymnasiums in Berlin-Charlottenburg eine literarische Erinnerung setzt. Die Erzählung „Die verbrannten Sterne“ ist in der literarischen Landschaft der ersten Nachkriegszeit, als in der Prosa zunächst ein Festhalten an traditionellen Erzählmustern dominierte, einer der wenigen wirklich modern erzählten Texte. Durch mehrfachen Perspektivwechsel zwischen erster und dritter Person gelingt es der Autorin, ihre Hauptfigur, eine junge jüdische Frau im Berlin der Nazizeit, so zu präsentieren, daß sie sich gewissermaßen selbst von innen und von außen sehen kann. Die Erzählung wählt einen Entscheidungspunkt im Leben dieser Figur, eine Nachtstunde zwischen zwei Teilen ihres Daseins, in der wie in einem Fokus die Tragweite ihres Entschlusses durchgearbeitet werden kann, die gelben Sterne abzulegen und unterzutauchen, nachdem es ihr gelungen war, die kleine Tochter nach England zu schicken. Das reflektierende Ich wägt die Gründe ab, nicht auf das zaghafte Angebot ihrer wenigen Freunde einzugehen, bei ihnen unterzutauchen – „Niemandes Schlaf will ich unruhig machen, weil ich heiße und geboren bin.“[10] -, sondern in einer Bar einen wildfemden Mann anzusprechen, ob der ihr für eine Nacht Unterschlupf gewährt. An diesen wenigen Stellen, wo die Ich-Erzählerin ganz fremd neben sich steht, d. h. ganz fremd handelt, heißt es plötzlich „sie“: „Die junge Dame sagte – und sie wußte, daß es ein Spiel mit dem Leben war: ‚Kann ich heute nacht zu Ihnen kommen? Ich bin Jüdin – ich habe keine Bleibe.’“[11] Sie bricht aus dem Leben mit den Sternen aus, das den sicheren Untergang zum Ziel hat, und setzt alles auf eine Karte. Ihr Monolog in der Nacht, neben dem fremden Mann liegend, der ein äußerlich angepaßter „Volksgenosse“ ist, aber auch ein Parteigenosse oder SS-Anwärter sein könnte, läßt erkennen, wie unter der dünnen Decke der verwandelten Existenz die Angst pocht: nicht so sehr vor physischer Vernichtung, sondern vor dem völligen Verlust der Identität, an den ein Leben als Illegale gebunden sein wird – vor dem Sturz ins Nichts. Dieses Gefühl der Dekonstruktion ihres Ichs wird durch den Wechsel der Erzählperspektive artikuliert. Als Dame mit rotgefärbtem Haar und lackierten Fingernägeln ist sie nicht mehr sie selbst. „Unter Wasser muß ich leben“, heißt es, und: „Ich darf gar nicht mehr wissen, wie ich heiße und wo ich geboren bin.“[12] Mit diesem brisanten Thema fügt sich Susanne Kerckhoff in eine Reihe von zeitgeschichtlichen Prosatexten ein, die nun nachträglich das Leid zu reflektieren versuchen, das Juden in Deutschland von deutschen Mitbürgern angetan wurde, beispielsweise Hertha von Gebhardts Roman „Christian Voss und die Sterne“ oder auch ein Erzählstrang in Bernhard Kellermanns „Totentanz“. Während dort aber eher konventionelle Handlungsmuster überwiegen und gezeigt wird, wer alles bereit war, Juden zu verstecken, bezieht Susanne Kerckhoffs Text seine Stärke, sowohl literarisch wie figurenpsychologisch, gerade aus der Darstellung der existentiellen Gefahr, die ein solcher Schritt auf des Messers Schneide bedeutete, und der abgrundtiefen Ungewißheit, in die sich die Hauptfigur mit ihrem Entschluß begibt, die Sterne zu verbrennen : es ist ein „Salto mortale“, dessen Ausgang längst nicht gewiß ist.

Unmittelbar nach Kriegsende war die Situation für junge Schriftstellerinnen grundsätzlich erst einmal günstig: neue Stimmen wurden gefördert, der Bedarf an neuer Literatur war groß. Hinzu kam der Umstand, daß der männliche Teil dieser jungen Generation durch Krieg und Kriegsgefangenschaft stark dezimiert war- in der Publizistik, in Redaktionen und Verlagen fehlten Kräfte, Plätze waren frei. So wurde jungen Frauen, wenn sie als „unbelastet“ galten und schreiben konnten, der Start nicht schwer gemacht. Die vielen Neugründungen von Zeitungen und literarischen Zeitschriften, besonders in Berlin, forderten sie geradezu heraus. Susanne Kerckhoff nutzte die Chance der Stunde, sich einen Platz in der Literatur der jungen Nachkriegsgesellschaft zu erringen. Aber die Chance, viel schreiben zu können, gedruckt oder auf den Theaterbühnen gespielt zu werden, brachte natürlich auch Verpflichtungen und neue Zwänge mit sich. Susanne Kerckhoff gehörte zu jenen Schriftstellerinnen und Publizistinnen, die den Moment der kurzen Nachkriegszeit für sich zu nutzen verstanden, die aus dem verlorenen Krieg ein neues weibliches Selbstbewußtsein ableiteten und die Rolle, die sie nun in der Gesellschaft spielen wollten, nicht mehr über den Mann definierten. Zu diesem Selbstbewußtsein gehörte auch die politische Seite, selbst zu entscheiden, selbst eine politische Meinung öffentlich zu vertreten – so in den „Berliner Briefen“. Frauen wie sie fanden nämlich u. a., daß es vor allem die Männergesellschaft war, die den Krieg zu verantworten hatte, was für sie keineswegs hieß, Frauen aus der nationalen Schuld auszuklammern. Allerdings fragte sie auch nicht explizit nach dem Anteil der Frauen, d. h. sie stellte die Schuldfrage noch nicht aus spezifisch weiblicher Sicht. Sie gehörte jedoch zu der Generation von Frauen, die sich nicht sofort wieder verdrängen lassen und ihre neugewonnene Selbstbestimmtheit aufgeben wollten, als die Männer aus Kriegsgefangenschaft oder Exil zurückkehrten und ihre angestammten Plätze wieder einnehmen wollten. Sie verbündete sich mit zahlreichen Frauen, die ihr gute Freundinnen wurden, darunter vor allem die Redakteurin und Übersetzerin Lieselotte Remané. Doch hielt sie schließlich dem Druck nicht stand, der zum Teil ein selbstgesetzter war. Sie ließ sich auch wieder instrumentalisieren und zerbrach nicht zuletzt am unbewältigten Konflikt eines Mannes wegen. Und dies wiederum war auch zu einem beträchtlichen Teil den Verhältnissen anzulasten, denn die waren auch in der jungen DDR durchaus nicht für die Autonomie von Frauen im gesellschaftlichen Leben eingerichtet.

Wohl aus dem Gefühl heraus, etwas gutmachen zu müssen, schoß Susanne Kerckhoff in ihrer kulturpolitischen Aktivität manchmal über das Ziel hinaus – nicht nur dort, wo sie politische Tageslyrik schrieb. Der Sprung, den sie sich selbst abverlangte aus ihrer ehemals bürgerlichen Geborgenheit heraus in den scharfen Wind politischer Richtungskämpfe, war vielleicht zu groß und zu schnell gewagt, nicht immer genügend abgesichert durch eine tiefe gedankliche Durcharbeitung ihrer komplizierten individuellen Entwicklung. Um wirklich reifen zu können, hätte sie mehr Zeit gebraucht. Spontaneität war sicherlich einer ihrer charakteristischsten, auch sympathischen Wesenszüge. Ihre Unerbittlichkeit machte ihr nicht nur Freunde. Dabei bezog sie die nationalen Schuldgefühle durchaus auch auf sich selbst. Schon in den „Berliner Briefen“ hatte sie ihrem Adressaten bewußt gemacht, daß im Nachkriegsdeutschland zu vieles von der Vergangenheit nicht gründlich genug aufgedeckt und verändert wird, so daß große Teile der Bevölkerung ohne wirkliches Innehalten und innere Besinnung weitermachen, als sei nichts zu bereuen: „Es hätte nach dem Zusammenbruch eine radikale Abrechnung stattfinden müssen! Das getretene und verratene Volk hätte seine ‚Führer’ eigenhändig an die Laternenpfähle hängen müssen! [...] Dann hätte ein heilsames Erschrecken nach gelöschtem Rachedurst eine Demokratie gesicherter Menschenrechte schaffen müssen.“[13] Deutlich kommen ihre Auffassungen aus einem gefühlsbetonten humanistischen Wertekontext. Ihr moralischer Rigorismus machte es ihr zunehmend unmöglich, Kompromisse auch mit ihrer eigenen Partei einzugehen. Wie bereits in den „Berliner Briefen“ angedeutet, kann sie beispielsweise die mangelnde Offenheit im Umgang der Genossen miteinander schwer ertragen, „weil Fehler und Enttäuschungen mich dort mehr martern als irgendwo anders.“[14] Dabei ist Susanne Kerckhoff als Frau und als Schriftstellerin eine außerordentlich emotional geprägte Person. Das Zurückdrängen oder Verbiegen ihrer Gefühle erschien ihr als eine Todsünde. Immer in Krisensituationen sucht sie besonders in der Lyrik Halt, dann entstehen ihre besten Gedichte. Todessehnsucht verschaffte sich denn auch in ihren letzten sehr schönen Gedichten immer stärker Ausdruck, so in „Lied im Winter“ („Schreiten die Wolken, jagen die Bäume dahin,/ stürzt mir das Jahr, daß ich näher den Toten bin. [...] Klage der raubenden Zeit. Raubt mir ja beinah den Sinn,/ weil ich, vergehend in ihr, tief im Lebendigen bin.“) oder „Vorfrühling“ („Satt von winterlichem Tod getrunken,/ Blatt zerfallen, letztes Eis versunken, [...] Alle Dinge können nicht erwachen,/ jener Strauch erfror und dieses Lachen“). Im Gedenkbuch „Zeit, die uns liebt“ steht auch Susanne Kerckhoffs Text

 

Volkslied

 

War es im Walde,

waren die Wege verschneit,

gingen die Kinder,

gingen im Walde zu weit.

 

Über die Heide

sangen sie, lachten sie gern,

hörten vom Berge

Stimmchen wie Silber so fern.

 

Schön sind die Tannen,

duftig das funkelnde Eis.

Furcht auf den Wangen

glüht wie ein Öfchen so heiß.

 

Daß ich dich liebe –

bin wie die Kinder im Wald.

Sie sind erfroren.

Folg ihnen bald.

 

 

Ein Selbstmord, noch dazu einer Genossin in verantwortlicher Position, mußte natürlich Aufsehen erregen und ihrer Partei als Bruch eines Tabus erscheinen. So wurde denn ihr Tod auch zum Gegenstand im Hin- und Hergezerre des Kalten Krieges zwischen Ost und West. Gegenseitige Schuldzuweisungen in ost- und westberliner Zeitungen suchten eine Erklärung für ihren Freitod zu finden. Die ließ sich nun aber eindeutig nicht der SED anlasten, als ein Abschiedsbrief Susanne Kerckhoffs bekannt wurde, worin es hieß: „Meine letzten Gedanken gelten, trotz meiner persönlichen Schwäche, ganz allein dem Gedeihen der Deutschen Demokratischen Republik, der ich stärkere und fähigere und tapferere Menschen wünsche, als ich es bin.“[15] Danach fand Susanne Kerckhoff für Jahrzehnte in keinem Schriftstellerlexikon der DDR mehr Erwähnung, ebensowenig wie in der Literaturgeschichte Band 11. Erst in jüngster Zeit, besonders im Kontext frauengeschichtlicher Forschungen, wird ihr wieder der ihr in der Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur gebührende Platz eingeräumt[16].

Neben ihrer Prosa bleibt vor allem ein Teil ihrer Lyrik in Erinnerung, diejenigen Gedichte, die ein tiefes weibliches Gefühl zum Ausdruck bringen für die Welt, in der sie lebt und für die Menschen, die ihr am nächsten stehen, ihre Kinder, ihre Freunde. Viele davon entstanden in Karolinenhof, nehmen Eindrücke der winddurchzausten Kiefern am See auf, der charakteristischen märkischen Landschaft ihrer unmittelbaren Umgebung, in der sie tiefes Glück ebenso intensiv empfand wie Trauer.

 



[1] Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4. bis 8. Oktober 1947. Protokoll und Dokumente, hrsg. von Ursula Reinhold, Dieter Schlenstedt und Horst Tanneberger, Berlin 1997, S. 171 f.

[2] Ebd., S. 224.

[3] Es handelt sich um die Romane: „Tochter aus gutem Hause“, Berlin 1940 (von der UFA verfilmt unter dem Titel „Ihr erstes Erlebnis); „Das zaubervolle Jahr“, Dresden 1941/ Berlin 1942; sowie „In der goldenen Kugel“, Dresden 1944.

[4] Vgl. Kerckhoffs Artikel „Mit tiefer Beschämung“, in: Berliner Zeitung vom 24. 4. 1948.

[5] Vgl. dazu ausführlich meinen Beitrag „’Mutter Berlin’ und ihre Töchter. Weibliche Perspektiven in der Nachkriegsliteratur“, in: Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945-1949, hrsg. von Ursula Heukenkamp, Berlin 1996, S. 382 f.

[6] In: Berliner Zeitung vom 6. 1. 1949, S. 5.

[7] In: Berliner Zeitung vom 20. 1. 1949.

[8] In: Vorwärts vom 2. 3. 1948.

[9] In: Vorwärts vom 20. 4. 1948.

[10] Susanne Kerckhoff: Die verbrannten Sterne, erschienen in der Anthologie: Ende und Beginn, Berlin 1947, S. 82.

[11] Ebd., S. 84.

[12] Ebd., S. 81.

[13] Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe, Berlin 1947, S. 40.

[14] Ebd., S. 58.

[15] Zitiert nach den Memoiren von Susanne Kerckhoffs Mutter: Eta Harich-Schneider, Charaktere und Katastrophen, Berlin 1979, S. 74.

[16] So in: A Encyclopedia of Continental Women Writers, edited by Katharina M. Wilson, Volume 1-2, New York and London 1991, oder: Petra Budke/ Jutta Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Ein Lexikon zu Werk und Leben, Berlin 1995.

 

Inhaltsverzeichnis

 Lyrik

 Prosa

 Nachwort: Satt vom winterlichen Tod getrunken ... Susanne Kerckhoff in ihrer Lyrik und Prosa

 Anhang: Literaturverzeichnisse, Quellennachweise