Turek, Martin

"Im Roten Kloster zu Weimar. Erinnerungen"

mit einem Nachwort von Wolfgang Triebel, [= Reihe Autobiographien, Bd. 11], 2002, 259 S., ISBN 3-89626-372-2, 17,80 €

   => Lieferanfrage

Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages

 

In seinem Buch „Im Koten Kloster zu Weimar" schildert Martin Turek die zwei Jahre seiner Ausbildung als Offiziersschüler an der Offiziersschule der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (HVdVP) der DDR in den spannungsgeladenen Jahren 1952/1953 in Weimar.

Die von der Weimarer Bevölkerung erfundene Bezeichnung „Rotes Kloster" ist doppeldeutig. „Kloster" soll die Abgeschiedenheit der Insassen vom übrigen öffentlichen Leben und ihre Einbindung in ein strenges hierarchisches Reglement kennzeichnen, wie man es von Klöstern der Kirchen weiß. Das „Rot" meint Inhalt und politische Richtung der Ausbildung von jungen Polizeioffizieren in der DDR.

Für Martin Turek enden diese zwei Jahre mit dem Rauswurf. „Im Auftrage der Zentralen Parteileitung und der Schulleitung gebe ich folgenden Beschluß bekannt: Genosse Offiziersschüler Turek wird als Wachtmeister aus der Deutschen Volkspolizei entlassen. Wegen unkollektiven Verhaltens erhält er eine strenge Rüge mit Funktionsentzug" - verkündet ihm am Ende der Parteisekretär des Roten Klosters.

Die persönlichen Erlebnisse des Martin Turek sind eines der vielen kleinen Gucklöcher in die Geschichte, über die Geschichte konkret und erlebbar wird.

Vorwort

Nach der Lektüre könnte der Leser sich fragen, warum hat er das geschrieben? Wollte er damit seine „Vergangenheit bewältigen"? Vorab würde ich antworten: Sicherlich kann der Mensch, besonders der ältere, Erkenntnisse aus der Vergangenheit gewinnen, aber geradewegs bewältigen kann er sie nicht. Ein Mensch ohne Vergangenheit wäre ein Mensch ohne Füße. Deshalb kommt die Aufforderung zur „Bewältigung“ einer Aufforderung zur Amputation gleich.

Nein, mein Anliegen, über das „Damals“ zu berichten, folgt dem Bedürfnis aufzuschreiben, wie sich Persönliches, ja Privates mit dem großen Geschehen und den Praktiken der Jahre 1952/1953 verknotete. Damals – in den hohen Birken spielte der Frühling mit den jungen Blättern. Dort, wo die Realität in Widerspruch zu unseren Idealen geriet, versuchten wir, die Klötze aus dem Weg zu schaffen. Der Frühling konnte kein Irrtum sein.

Ich habe meine Erlebnisse auch deshalb aufgeschrieben, weil heutzutage oftmals mit apriorischer „Gewissheit“ geurteilt und verurteilt wird. Ich versuchte an meinen persönlichen Erlebnissen darzustellen, dass meine Zeit keine gusseiserne war – bar jeglicher Konflikte. Gusseisen ist übrigens sehr zerbrechlich, wenn es zu Boden stürzt, das gilt für die Vergangenheit und die Gegenwart. Gleichfalls ist für beide Zeiträume bestimmend: Wer glaubt das Gewissen zu sein, braucht kein Gewissen zu haben. Wie gesagt, „bewältigen“ kann und will ich meine Vergangenheit nicht. Warum sollte ich sie wie ein lästiges Insekt abschütteln? Ich habe diese Episode meines Lebens beschrieben, weil zuweilen ein Guckloch aufschlussreicher sein kann als 1000 große Fenster.

Martin Turek                         Dezember 2001

 

Nachwort 

Aufgeschriebene Berichte von Zeitzeugen sind Bestandteil der oral history, mündlich überlieferter Geschichte, Erzählung über erlebte Vergangenheit, die Nachgeborene besser sollen nachfühlen können – jedenfalls nach Intention der Berichterstatter –, auch wenn sie dem Erzähler persönlich nicht gegenübersitzen. Geschichte ist unterschied-lichen und z.T. sich widersprechenden Deutungen unterworfen – oft auch ausgesetzt. Insofern kommt dem Erlebnisbericht eines Zeitzeugen nachhaltige Bedeutung zu, mag die Darstellung auch noch so persönlich ausfallen. Der Wert der subjektiven Wiedergabe von Fühlen und Denken, Verhalten und Handeln von Menschen unter bestimmten konkret-historischen Bedingungen besteht in ihrer bildenden Funktion für und erzieherischen Wirkung auf spätere Generationen. Wer die Vergangenheit unvoreingenommen verstehen will, sollte über das Fühlen und Denken, Verhalten und Handeln der Väter und Vorväter nicht leichtfertig urteilen oder es besserwisserisch verurteilen, sondern Bertolt Brechts Aufforderung (An die Nachgeborenen) beherzigen: „... gedenkt unserer mit Nachsicht".

In seinem Buch „Im Roten Kloster zu Weimar" behandelt Martin Turek zwei Jahre seiner Ausbildung als Offiziersschüler an der Offiziersschule der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (HVdVP) der DDR 1952/1953 in Weimar. Die von der Weimarer Bevölkerung erfundene Bezeichnung „Rotes Kloster" ist doppeldeutig. „Kloster" soll die Abgeschiedenheit der Insassen vom übrigen öffentlichen Leben und ihre Einbindung in ein strenges hierarchisches Reglement kennzeichnen, wie man es von Klöstern der Kirchen weiß. Das „Rot" meint Inhalt und politische Richtung der Ausbildung von jungen Polizeioffizieren in der DDR. Sie wurden von bewährten, aus Konzentrationslagern und Zuchthäusern befreiten Widerstandkämpfern gegen das Naziregime, von Mitgliedern der Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschisten Franco (1936–1939) sowie ehemaligen Soldaten und Offizieren unterrichtet, die an der Seite der sowjetischen Roten Armee gegen Hitlers Wehrmacht gekämpft haben und an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus aktiv beteiligt waren. Für die einen Bürger Weimars steckte in dem „Rot" noch die zwölf Jahre lang verbreitete Abschreckung gegenüber der kommunistischen Symbolfarbe – z.T. gibt es das auch heute noch bei solchen bundesdeutschen Mitbürgern, die von antikommunistischen Ressentiments nicht loskommen bzw. als anhaltende Feindbilder kultivieren. Für die mehrheitlich anderen Weimarer, die die aus der braunen Barbarei im Konzentrationslager Buchenwald resultierenden dunklen Schatten über der Stadt Goethes und Schillers überwinden wollten, für sie war das „Rot" eine zustimmende, wenn auch mit stichelndem Unterton angereicherte Liebkosung für den neuen Charakter der neuen Volkspolizei.

Martin Turek hat nach nunmehr fünfzig Jahren ein sehr persönliches und bewegendes Buch über ein Kapitel seines Lebens geschrieben. Dennoch steht nicht der Ich-Erzähler im Mittelpunkt der Handlung, und eine in sich mehr oder weniger geschlossene Handlung liegt auch nicht vor. Es geht um Menschen in konkreten Situationen in einer Offiziersschule der Volkspolizei. „Jeder trug seine Biographie, wie sie ihm durch den Krieg oder danach aufgetragen wurde. Keiner kam ohne politische Erfahrungen an die Schule – schon gar nicht ohne Überzeugungen." So steht es im ersten Kapitel.

Da sind zunächst die Kursanten, die den Krieg als Soldaten erlebt haben, einige waren von den Nazis eingesperrt, wieder andere verfügten über einen erlernten Beruf, ein Neulehrer ist darunter. Sie alle bekennen sich wie Turek selbst zu der erst drei Jahre alten DDR und wollen Polizisten in höheren Chargen werden, um diese junge Republik gegen innere und äußere Feinde zu beschützen. Jeder bringt seine spezifischen Erfahrungen sowie unterschiedliche Einsichten und Ansichten über gesellschaftliche Entwicklungsprobleme mit, die von den Lehrern in Lehrveranstaltungen wie Gesetzeskunde, Kriminalistik u.a. sowie in Marxismus-Leninismus durch unumstößlich geltende Lehrsätze auf eine höhere geistige Ebene gehoben werden sollen.

Und die Lehrer? Kommandeur der Schute ist Genosse Bless, ein Spanienkämpfer, sachlich im Umgang mit den Kursanten. „Ich erinnere mich," schreibt Turek, „an seine Schilderungen: die gezielten und militärisch gut durchdachten Operationen gegen die Francofaschisten, den bis zuletzt aufopferungsvollen Widerstand... Immer nahm er sich bei seinen Berichten bescheiden zurück." Der älteste Offizier an der Schule ist der Kommandeur und Politstellvertreter Genosse Fuchs. Er hat lange Jahre in der Sowjetunion gelebt und an der Seite der Roten Armee gegen die Hitlerwehrmacht gekämpft. Auf Fragen gibt er keine fertigen Antworten, aber er erklärt geduldig, dass man zu einer Antwort kommen kann, wenn man Ursache und Wirkung ins richtige Verhältnis zueinander setzt. Mit ihm kann man reden, wenn man Probleme hat. Oberkommissar Rumpf ist der Fachmann für Kriminalistik. In seinen Unterrichtsstunden lernen die Offiziersschüler, was Beobachtung für einen Polizisten bedeutet und warum sie notwendig ist, um z. B. bei der Vernehmung von Verdächtigen zu wahrheitsgemäßen Aussagen zu kommen, Verdachtsgründe zu bestätigen oder zu entkräften. Polizeitaktik unterrichtet Volkspolizeioberrat Hächel, Wachsamkeit und Kritik und Selbstkritik gehören zu seinen Steckenpferden. Volkspolizeioberrat Kurz ist der Seminarleiter für Marxismus-Leninismus. Er kommt im Buch, wie man so sagt, nicht sonderlich gut weg. Disziplin, die kein Kursant in Abrede stellt, ist seine zweite Natur und dadurch oft von Sturheit nicht weit entfernt. Als Philosoph fehlt ihm paradoxerweise die geistige Beweglichkeit, was wiederum seine Überzeugungskraft einschränkt. Der Sekretär der SED-Parteiorganisation der Schule, Genosse Volkspolizeirat Wagenfür, ein eher jovialer Typ, ist funktionsbedingt politisch konsequent, aber dennoch nicht so stur und beweglicher als Kurz. Zu nennen ist noch der Generalinspekteur der Hauptverwaltung der KVP, Grünbaum, ein aus dem antifaschistischen Widerstand verdienstvoller Genosse, der zur Inspektion in der Schule weilte, mit dem VP-Offiziersschüler Turek aber regelrecht aneinandergeriet.

Jeder der Kursanten und jeder der Lehrer hat ein durch unterschiedliche Lebens- und Kriegserfahrungen geprägtes individuelles Persönlichkeitsprofil. Für ein landläufiges Schüler-Lehrer-Verhältnis, wie es in allgemeinbildenden Schulen unvermeidlich ist, gibt es eigentlich kein Erfordernis, und doch tritt es hier in der Akzentuierung von Übergeordnetem und Untergebenem auf und wird mit dem militärischen Charakter einer VP-Offiziersschule begründet. Zuspitzungen treten bei nicht übereinstimmenden Auffassungen zwischen Parteifunktionär und Parteimitglied auf. Typische Begriffe in Auseinandersetzungen sind dann Klassenfeind, Wachsamkeit, Kritik und Selbstkritik, Parteiauftrag, Parteiverfahren. Sie werden zu leeren Floskeln, wenn Vorgesetzte mit ihnen jonglieren und meinen, die Offiziersschüler erziehen zu müssen, anstatt bewusst deren Lebenserfahrungen einzubeziehen, was unter den damals konkreten Bedingungen natürlich gewesen wäre. So sagt es Turek nicht, beschreibt es aber mit kräftigen Strichen und deftigen Begriffen in z.T. ungewöhnlichen Wortverbindungen sowie sprachlich oftmals Widerspruch provozierenden Metaphern.

Unzufriedenheit und Auseinandersetzungen zwischen Kursanten und Lehrkörper entzünden sich an solchen banalen Problemen wie z. B. dem Ausgang und der kollektiven Beschäftigung. Obgleich der Film Tschapajew den meisten Kursanten längst bekannt war, sie mussten ihn sich „bis zum Überdruss immer wieder ansehen", schreibt Turek, obgleich er und andere viel lieber in das Weimarer Nationaltheater gegangen wären. Die kollektiv organisierte Freizeit hing den Kursanten zum Halse heraus. Sie meinten, eine „Volks"polizei muss die Begegnung mit dem Volk suchen, nicht aber vermeiden. Sie beschlossen zu streiken und servierten diesen Widerspruch dem ML-Lehrer Oberrat Kurz, dem kein anderes Argument einfiel als: „Die kollektive Freizeitgestaltung ist ein Befehl!" Nicht das Problem kollektive Freizeitgestaltung wurde in einer ausserordentlichen staatlichen Seminarversammlung diskutiert, sondern ob die Ausgangsverweigerung eine Befehlsverweigerung darstellt. Der Politstellvertreter Fuchs war gegenüber dem Ansinnen der Kursanten aufgeschlossener und half ihnen auf die Sprünge, den „Widerspruch zwischen Befehl einhalten und Befehl verweigern" zu lösen.

Die Jahre 1952/1953 waren für die DDR höchst aufregend und wirkten sich auf das politische Leben der VP-Offiziersschule nahezu naturnotwendig aus. In der SED hatten die Überprüfungen der Mitglieder einen Höhepunkt erreicht und Misstrauen in ihren Reihen verbrettet. Turek war davon auch betroffen. Parteisekretär Wagenfür und Oberrat Kurz versuchten ihn in Widersprüche zu seinem Vater, dem Schriftsteller Ludwig Turek, zu verwickeln, indem sie ihm den „Parteiauftrag" erteilten, er möge sich schriftlich dazu äußern, ob sein Vater „Stalinanhänger" sei. Martin Turek lehnte das mit der Begründung ab, wer das wissen will, möge seinen Vater selbst fragen. Vater Turek wurde nachgesagt, er sei mehr ein Rebell als parteidiszipliniert, und von daher wurde auf den Sohn geschlossen.

Heute, nach fünfzig Jahren, schüttelt man den Kopf über derartige Denkweisen. Damals aber, die DDR hatte eine offene Grenze zur westdeutschen Bundesrepublik, Adenauers Reden über die „Befreiung der Ostzone" hatten einen wenig freundlichen Klang, Stalins Angebot über einen Friedensvertrag mit beiden deutschen Staaten von 1952 blieb unbeantwortet, statt dessen steuerte die Bundeswehr den Weg in die NATO an, die ihren Feind im Osten schon benannt hatte – damals waren Besorgnisse über Versuche zur Beseitigung der DDR von außen nicht unbegründet. Die innere Lage der DDR hatte durch die 2. Parteikonferenz der SED 1952 über die Schaffung von Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus, das forcierte Vorantreiben landwirtschaftlicher Genossenschaften und nicht zuletzt das Heraufsetzen der Normen in der materiellen Produktion Widersprüche heraufbeschworen, die am 17. Juni 1953 zu einer Explo-
sion in der Gesellschaft führten. Beide Seiten, Ost wie West, haben diese und andere Ereignisse jener Zeit von einer – wie sie meinten – ihren politischen Interessen getragenen „höheren Warte" aus bestimmt, die sie jeweils als die Interessen des Volkes bezeichneten. Aus heutiger Sicht ist es einfach, die Reaktionen der Regierung der DDR bzw. der SED mit klug oder unklug, richtig oder falsch zu bewerten. Bundesdeutsche Politiker behaupten noch heute, sie hätten schon damals alles gewusst und alles richtig gemacht. Die Arbeiter in den Betrieben, Volkspolizisten auf der Straße oder wie in Weimar auf der Offiziersschule stellten viele Fragen über das Warum, aber die Mehrzahl der Funktionäre wusste keine überzeugenden Antworten, weil eine offene Fehlerdiskussion unerwünscht war, könnte sie doch vom Klassengegner ausgenützt werden.

Martin Turek lässt nichts weg und dichtet nichts hinzu. Wer die DDR der Jahre 1952/1953 erlebt hat, wird bestätigen, so war es vielerorts. Die Überwindung der Reste des Alten ging vielen nicht schnell genug, vor allem jenen nicht, denen durch die Umstände der gesellschaftlichen Umgestaltung für diese Umgestaltung Verantwortung übertragen worden war. Die meisten Funktionsträger von damals hatten zwar schon dem Tod ins Auge gesehen, sie waren politisch gehärtet – Nikolai Ostrowskis Buch „Wie der Stahl gehärtet wurde" hatte Symbolbedeutung nicht nur für den Vorwärtsdrang der jungen Generation –, aber gerade die in den vorausgegangen Kämpfen Gestählten hatten nicht gelernt, wie man eine sozialistische Gesellschaft aufbaut und Ursachen für dabei auftretende Fehlentscheidungen beseitigt. Turek erklärt sich dieses Verhalten so: „Als sie endlich in ihre Heimat zurückkehren konnten, sollte und musste das Neue schnell in Angriff genommen werden... Was machte mir den Umgang mit dem Genossen Grünbaum so schwerlastig? Stieß ich mich lediglich an seinem äußeren Verhalten, oder war es diese Unduldsamkeit, die ich schon bei anderen erfahrenen Genossen festgestellt hatte: Es ging ihnen alles nicht schnell genug.

 

Äußere Umstände und selbst auferlegte innere Zwänge haben zu Beginn der fünfziger Jahre ein politisches Tempo hervorgebracht, dem viele trotz immer wieder auftretender Unzulänglichkeiten und Fehler im Umgang mit den Menschen gerecht zu werden bemüht waren. Das zeigte sich auch an der VP-Offiziersschule in Weimar. Niemand stellte das sozialistische Ziel in Frage, auch wenn schon damals erhebliche Demokratiedefizite zu erkennen waren. Die dort Volkspolizeioffiziere werden wollten, deren Denken war von den Prämissen nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus bestimmt. Sie wollten eine sozial gerechte humanistische Gesellschaft, die sie im Sozialismus sahen, so wie sie Sozialismus damals verstanden hatten. Das verordnete Kollektiv war ihnen ein Gräuel, aber Gemeinschaft auf freiwilliger Basis wollten sie. Wenn man heute, zwölf Jahre nach dem Zusammenschluss beider deutscher Staaten, Denk- und Verhaltensweisen von in der DDR aufgewachsenen Bürgern mit Denk- und Verhaltensweisen westdeutscher Bürger vergleicht, dann sind ausgeprägter Gemeinschaftssinn und soziales Bewusstsein noch immer markante Markenzeichen der ostdeutschen Bundesbürger. „Wir sind im Widerstreit aus dem gewachsen, was wir erlebten und vorfanden." heißt es bei Turek.

Sein Buch beschreibt, wie in der DDR ein sozialistischer Menschentyp geformt wurde, mit allen Ecken und Kanten und inneren Widersprüchen. Die heute immer wieder kolportierte Behauptung, es wäre ein idealisiertes oder idealistisches Menschenbild gewesen, ist in mancher Hinsicht nicht unberechtigt, aber nur die halbe Wahrheit, weil mit dieser Aussage nur jene Seiten reflektiert werden, die schon am Anfang unvollkommen waren und auch später geblieben sind. Aber die in der DDR unter komplizierten Umständen geschaffenen sozialen Verhältnisse und gewachsenen sozialen Verhaltensweisen haben Interessenstrukturen hervorgebracht, in denen nackter Egoismus und kalter Individualismus Fremdkörper wurden. Ist es nur ein Zufall, dass die Vereinigung beider deutscher Staaten 1990 von vielen als „Wende" bezeichnet wird? Was auch alles „gewendet" worden ist, die Marxsche Idee von der sozialökonomischen Umwelt, die das soziale Bewusstsein der Menschen formt, lässt sich nicht wenden, sie muss in der heutigen hemmungslosen kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer zügellosen Profitgier nur neu und tiefer gelotet als in der DDR durchdacht werden. Tureks Buch kann dabei hilfreich sein, weil es nicht politisch gestanzte Vorurteile bedient, sondern nüchtern und spannend von Menschen mit nicht nur angenehmen Eigenschaften berichtet. Aber sie alle wollten ihrem Leben einen Sinn geben, indem sie sich für ein anderes als das vorausgegangene Deutschland einsetzten. Sie haben viele Fehler gemacht und am Ende den Zusammenbruch der DDR nicht verhindern können. Fehler können aber auch hilfreich sein, wenn man es will.

Wolfgang Triebel

   => Lieferanfrage

Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages