Bergner, Klaus

“Begegnungen mit 'Faulen Säcken' und 'Potentiellen Mördern'.  Rückschau eines Engagierten auf Schule und Militär”

Autobiographie [=Reihe Autobiographien]

trafo verlag 2002, Taschenbuch, 380 S., ISBN 3-89626-365-X

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Zum Inhalt

Anläßlich eines mehrwöchigen Aufenthalts in Potsdam wird der geschichtsbegeisterte Dr. Klaus Bergner, Studiendirektor und Stellvertretender Schulleiter einer Berufsbildenden Schule im Ruhestand sowie Oberstleutnant d. Res. außer Dienst, aufgrund einer merkwürdigen Begebenheit mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Vor allem während der abendlichen Radfahrten in der Umgebung Potsdams, den Gaststättenbesuchen, den Begegnungen mit Klassenkameraden und Mitarbeitern erinnert er sich an Stationen seines Lebens – an die Schulzeit kurz nach dem Ende des II. Weltkrieges, die Gymnasialzeit, an die Grundwehrdienstzeit in der jungen Bundeswehr und die über 50 Wehrübungen in den folgenden 40 Jahren, die Referendarzeit und an seinen Dienst in der Berufsbildenden Schule. Dabei schildert er als kritischer Zeitzeuge den Weg von Schule und Bundeswehr aus der frühen Zeit der Aufbruchstimmung bis zum ernüchternden Heute. Seine mit Humor, z. T. aber auch bissig, vorgetragenen Reflexionen lassen erkennen, daß er – in der Schule wie in der Bundeswehr – mit seinem Engagement ein „Störer" war. So ist sein Bericht eine Mischung aus Realität und Vision.

 

Inhaltsverzeichnis

 

Leseprobe

An einem Samstagnachmittag der ersten Apriltage, der sich anschickte, in den frühen Abend überzugehen, lenkte Dr. Klaus Bergner sein Auto in die Einfahrt seines Hauses, die zur Garage führte. Morgens brach er in Potsdam auf, wo er sich vier Wochen bei einem Amt aufhielt, dessen Aufgabe die Erforschung der deutschen Militärgeschichte ist. Um die Mittagszeit legte er eine längere Pause in Bordenau, dem Geburtsort des preußischen Reformergenerals Gerhard von Scharnhorst, ein. Danach fuhr er bei herrlichem, sonnigem Frühlingswetter in zügiger Fahrt seinem Heimatort entgegen.

Schon nach wenigen Metern auf dem Weg zur Garage sah er seine Frau Elke in ihrem blauen, mit weißen Margariten gemusterten Arbeitskittel für den Garten und dem als Sonnenschutz getragenen Strohhut, wie sie das Unkraut im Rosenbeet jätete. Seit vierzig Jahren kannte sich das Ehepaar und die Frau war es gewohnt, daß ihr Mann ihr oft wochenlang während der Übungen bei der Bundeswehr Haus und Garten zur alleinigen Pflege überließ. Zwar kam er nun nicht von einer Wehrübung zurück, aber das Wiederkommen erinnerte an die über 50malige Abwesenheit in ihrer langen Bekanntschaft. Sie unterbrach sofort ihre Arbeit, lief ihm entgegen und bei der Umarmung waren beide froh, wieder zusammen zu sein.

Als sie dann später nach dem Ausräumen des Autos und dem Ingangsetzen der ersten Waschmaschine auf der Terrasse beim Abendessen saßen, fragte Elke: „Wie war denn die letzte Woche? Hast du deinen Professor-Klassenkameraden noch mal getroffen?" „Ja, doch, mit dem saß ich einen ganzen Abend in dem Wildpark-Hotel, das du ja von deinem Besuch kennst, zusammen", entgegnete Bergner. „Und ihr habt mit Sicherheit wieder in der Vergangenheit gewühlt, oder?" vermutete Elke. „Haben wir, aber nicht in der Schulzeit. Achim wollte wissen, wie meine Dienstzeit an der Berufsschule als Stellvertreter zu Ende ging", erwiderte Bergner „und diese unglaubliche Story habe ich ihm erzählt." „Der war sicher erstaunt, über die Intoleranz, Borniertheit und Arroganz, die du erleben mußtest, ohne dich richtig wehren zu können. Was sagte er denn dazu", wollte Elke wissen. „Nicht viel", kommentierte Bergner die Frage, „das, was ich auch sage: Irrenhaus, Tollhaus, Panoptikum oder so ähnlich."

Ein lauer Frühlingsabend lag über dem Garten, der Gesang der Vögel verebbte, die Sonne war bereits hinter dem Wald  versunken,  die Dunkelheit ließ das Kerzenlicht auf dem Tisch hell leuchten und die leise Musik aus der Küche verstärkte den Abendfrieden, in den hinein Elke plötzlich sagte: „Weißt du, Klaus, ich habe ja alles, was du erlebtest, auch mitbekommen oder du hast es mir erzählt. Ich kann mir vorstellen, daß du für die Engagierten unserer Generation typische Dinge zu berichten hast, die bei vielen auf Interesse stoßen würden. Du warst ein Pendler zwischen deinem Beruf und der Bundeswehr, zwei Lebensbereichen, die sich weder damals bei Bevölkerung und Politikern einer besonderen Wertschätzung erfreuten und auch heute nicht erfreuen. Wie hat man Lehrer und Soldaten mit ehrenrührigen Titeln bezeichnet! Du – ich habe sogar den Titel für deine Erinnerungen: Faule Säcke und potentielle Mörder. Du solltest, wenn der Sommer vorbei ist, die Tage kürzer werden und der Garten bestellt ist, das Buch darüber beginnen."

Bergner dachte daran, wie er oft vor Ferienbeginn oder vor Weihnachten seinen Schülern manche Geschichte aus seinem Leben erzählte, die von Schülergeneration zu Schülergeneration weitergegeben wurden und neue Klassen ihn sogar fragten: „Wer war eigentlich Karli Drescher oder wie war das mit dem abgebissenen Ohr?" Bergner schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: „Komisch, daß du mich dazu aufforderst, genau wie früher meine Schüler, gestern der Dr. Langow beim Abschied in Potsdam und vor ein paar Tagen der Professor. Aber nur Dinge zu berichten, die heute als ‘voll lustig’ oder ‘voll witzig’ gelten, dazu habe ich keine Lust. In unserer Zeit wurden Schule und Bundeswehr von den Politikern auf einen Weg gebracht, den die als falsch bezeichnen müssen, die sich darin engagierten. Da werden für einige Lebensabschnitte aber Dinge zur Sprache gebracht, die etlichen Betroffenen äußerst unangenehm sein werden," überlegte Bergner laut, „denn sie haben ja ihre eigene Sicht der Dinge." „Was soll’s," meinte Elke, „du schreibst doch nicht, um sie bloßzustellen oder gar zu beleidigen, sondern um zum Nachdenken darüber anzuregen, wie man in Zukunft aus Fehlern lernt und bessere Wege beschreiten kann. Mach es dir doch nicht so schwer. Denk an den großen Historiker Leopold von Ranke: Schreib um zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist."

Klaus Bergner wurde 1939 geboren, verbrachte seine Kindheit in einer Kleinstadt, die am Übergang des Rheinlandes zum Bergischen Land gelegen ist. Wegen ihrer schönen Lage, ihrer ansprechenden Bebauung mit ehemals vielen Grünflächen ist sie ein bevorzugtes Wohngebiet und steht in alten Lexika als Luftkurort vermerkt.. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind die Großstädte im rheinischen und bergischen Raum schnell erreicht.

An das Ende des Zweiten Weltkrieges kann er sich noch gut erinnern, auch wenn er damals die Zusammenhänge des Geschehens nicht zu erfassen vermochte. Die Nachkriegswirren und der Stillstands des schulischen Lebens bewirkten, daß er erst Ostern 1946 zur damals sog. Volksschule kam, die er bis 1950 besuchte und dann nach der üblichen, viele Tage dauernden Aufnahmeprüfung zu einem ein naturwissenschaftlichen Gymnasium in einer Nachbarstadt wechselte. Nach dem Abitur 1959 meldete er sich vorzeitig zur Ableistung des Wehrdienstes, wurde 1960 als Fahnenjunker der Reserve entlassen, leistete danach in 40 Jahren 53 Wehrübungen mit über 1000 Tagen ab und war seit 1976 Oberstleutnant d. R. In seinen jährlichen Übungen erlebte er die Entwicklung der Bundeswehr und ihre Stellung in der Gesellschaft von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart mit. Zwischen seinem 20. und 60. Lebensjahr verbrachte er gemäß Wehrpaßeintragungen fast jeden zehnten Tag, d. h. 10 % seines Lebens, in der Bundeswehr. Eine noch höhere Prozentzahl ergäbe sich, wenn man die zahlreichen, in der Summe gar nicht mehr faßbaren, außerhalb der Übungen abgewickelten Aktivitäten hinzurechnete.

Von 1960 bis 1965 studierte Bergner an der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, um später als Diplom-Handelslehrer an berufsbildenden Schulen zu unterrichten. Nach Ableistung des zweijährigen Referendardienstes an den Kaufmännischen Schulen Nord einer Großstadt des Bergischen Landes hatte er sein Ziel erreicht. Wegen seines Einsatzes und der vorhandenen freien Planstellen stieg er selbst für damalige Zeiten recht schnell 1974 zum Studiendirektors auf. 1968 promovierte er an der Kölner Universität zum Dr. rer. pol. Mit 42 Jahren übernahm er das Amt des Direktorstellvertreters, das ihm gemäß üblicher Dienstpostenreglungen zum Planungschef einer der größten berufsbildenden Schulen in NRW machte. Im Laufe der vielen Schuljahre erlebte er eine Entwicklung des berufsbildenden Schulwesens, die von Reformen im Improvisationsstil, von allmählicher Abschaffung des Leistungsprinzips, vom Abhandenkommen der Leistungsbereitschaft – nicht nur bei den Schülern – geprägt war..

Die heute allseits beklagten Zustände in den meisten deutschen Schulen sagte er seit Jahren voraus und handelte sich Tadel und Mißachtung der Vorgesetzten ein. Es machte keine hellseherischen Gaben erforderlich, mangelnde Ausbildungsfreudigkeit der Wirtschaft vorherzusagen, wenn z. B. aus meist fachlich nicht überzeugenden Gründen es für notwendig erachtet wurde, Auszubildenden mit Abitur an einem 2. Berufsschultag allgemeinbildende Fächer (Religion, Politik, Deutsch, Sport) auf meist recht niedrigem Niveau anzubieten; was die Wirtschaft wiederum mit weniger Einstellungen von jungen Leuten beantwortete.

Bergner stand in seinem Haupt- und ’Neben’beruf in einem gesellschaftlichen Umfeld, über das jeder glaubte mitsprechen zu können. Viele Menschen haben, sicherlich oft berechtigt, unangenehme Erinnerungen an die Schulzeit. Die Probleme, die sie hatten, führten sie und ihre Eltern natürlich auf das Versagen der Lehrer zurück; denn wer ist schon bereit, schlechte schulische Noten auf mangelnden Einsatz oder fehlende Begabung zurückzuführen.

Die Bundeswehr war von Anfang an eine ungeliebte Institution. Die Masse der Bevölkerung wußte zwar, daß es sie gab und daß in ihr vieles nicht in Ordnung war. Waren es in den Anfangsjahren der neuen Streitkräfte nur ganz wenige, die das Grundrecht der Verweigerung des Waffendienstes für sich in Anspruch nahmen, so wuchs im Laufe der Zeit die Zahl der Wehrdienstverweigerer auf eine Zahl von über 50 % eines Jahrganges an. Lehrer und Offiziere befinden sich seit Jahren am Ende einer Aufstellung über die Berufe, die am wenigsten geschätzt und geachtet werden. Dies ist ein Anachronismus, wenn man bedenkt, welch wichtige Aufgaben beide Berufe für die Gesellschaft erfüllen müssen.

Ein Zitat, aus einer berufsbildenden Fachzeitschrift 1994 entnommen, lautet: „Gerecht soll er sein, der Berufsschullehrer, zugleich menschlich und nachsichtig, straff soll er führen, doch taktvoll auf jeden Jugendlichen und Erwachsenen eingehen, Begabungen fördern, pädagogische Defizite ausgleichen, Suchtprophylaxe und Aids-Aufklärung betreiben, gegen Rechtsextremismus unterrichten und sexuellen Mißbrauch erkennen, auf jeden Fall den Lehrplan einhalten, wobei Hochbegabte und Abiturienten gleichermaßen zu berücksichtigen sind wie Begriffsstutzige und Sonderschüler. Und dies alles natürlich handlungsorientiert. Kurz: Der Berufsschullehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nacht und Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen, und zwar so, daß alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten ankommen. Sozusagen nach dem Prinzip der ‘didaktischen Parallelität’. Bei dieser Menge höchster Erwartungen an den Lehrer ist ein Versagen auf irgendeinem Teilgebiet vorprogrammiert, was dann leicht pauschaliert werden kann und dem heutigen Bundeskanzler, als er noch niedersächsischer Ministerpräsident war, leicht und locker publikumswirksam einer Schülerzeitung gegenüber formulieren läßt: ’Lehrer, das sind doch alle faule Säcke!’ Oder sind vor Ort die Gegebenheiten für die Umsetzung von Reformen nicht gegeben (z. B. fehlende Sporthallen für den Sportunterricht für über 100 Berufsschulklassen), so liegt die Schuld bei den Stundenplanern, die einfallslos und denkfaul sind. Ein inzwischen verstorbener Kultusminister kleidete das schlicht in die Worte: „Schule ist in Ordnung, nur die Organisatoren vor Ort sind Versager!"

Wenn man auch mit den Angehörigen der Bundeswehr (nach höchstrichterlichem Spruch sind sie der einzige Berufsstand in der Bundesrepublik, den man mit ‘potentielle Mörder’ ungestraft titulieren darf) nichts zu tun haben möchte, Politiker sich, außer auf Sonntagsreden, von ihr fernhalten, so weiß man aber doch, daß sie höchsten fachlichen und moralischen Anforderungen entsprechen müssen. Der FDP/MdB Lothar Krall formulierte das in der Bundestagssitzung am 29.11.1973 wie folgt: „Sind nicht doch unsere Erwartungsbilder vom Soldaten vielleicht etwas sehr überzogen? Nach verbreiteter Ansicht werden an den Soldaten im allgemeinen folgende Forderungen gestellt: Er soll ein versierter Spezialist sein, ein heroischer Einzelkämpfer, ein pädagogisch erfahrener Erzieher, fürsorglicher Vorgesetzter, qualifizierter Ausbilder, überzeugendes Vorbild und darüber hinaus ein allseitig gebildeter und interessierter Mann. Derart umfassende Erwartungen werden an keinen anderen Beruf gestellt."

Bergner meint, sowohl in der Schule als auch in der Bundeswehr versucht zu haben, einige der oben beschriebenen Anforderungen in die Tat umzusetzen, wohlwissend, daß dies in der dargestellten Form idealtypisch gar nicht praktikabel ist. Wenn A. Einstein einmal gesagt haben soll, daß es einfacher ist, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil abzubauen, so hat er gewiß recht.

In der Schule hatte Bergner mit dem Vorurteil zu kämpfen, er wäre ein ‘Kommißkopp’ und vor allem deshalb als Direktorstellvertreter bei der Stundenplanung wenig einfühlsam für die zahlreichen Sonderwünsche der Kolleginnen und Kollegen. Die männlichen Kollegen hatten durchweg den Wehrdienst oder Zivildienst vermieden, wozu es ja stets zahlreiche Möglichkeiten, z. B. Verlagerung des Wohnsitzes nach Westberlin, gab. Sie mußten in jeder Handlung, in jedem Wort, das ihnen nicht genehm war, eine Rache – Aggression des Reserveoffiziers gegen die unschuldigen und friedensliebenden Gutmenschen sehen, die es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, den ‘Kriegs’dienst abzuleisten.

Während seiner Wehrübungen stieß Bergner nicht selten auf die Vorurteile der aktiven Berufs- und Zeitsoldaten, die nicht begreifen konnten, daß man es duldete, solche ‘Lahmärsche’ und ‘Steißtrommler’ in Offiziersuniform herumlaufen zu lassen. Vor allem stieß man sich daran, daß Bergner als Studiendirektor nach A 15 besoldet wurde, was der Besoldungsgruppe eines stellvertretenden Regimentskommandeurs entsprach; der hatte natürlich weitaus mehr zu tun und zu verantworten als der stellvertretende Leiter einer berufsbildenden Schule mit einigen Tausend Schülern und über 100 Lehrern. So war man nicht nur in der Schule, sondern auch während der Wehrübungen in die unangenehme Lage versetzt, Vorurteile gegen die eigene Person zu entkräften und zu erklären, daß man ganz anders war, als man es zu unterstellen zu müssen glaubte.

An einem grauen, regnerischen Freitag der Vorweihnachtszeit 1994 packte Bergner gegen 12:45 Uhr in seinem Planungsraum die Sachen zusammen, hatte die letzten Vertretungspläne im Sekretariat zum Schreiben abgegeben und wollte ausnahmsweise die Dienststelle pünktlich verlassen. Da klingelte das Telefon und die Sekretärin teilte ihm den Wunsch des Schulleiters, Oberstudiendirektor Walther Nassing, mit, ihn sofort sprechen zu wollen. Zwischen Schulleiter und seinem Stellvertreter bestanden seit dem ersten Tag ihrer Zusammenarbeit wenig freundschaftliche Gefühle, so wie es eben ist, wenn zwischen zwei Menschen die Chemie nicht stimmte, wie man damals zu sagen pflegte.

Nassing hatte sich angewöhnt, den Freitagnachmittag stets mit irgendwelchen Besprechungen zu besetzen, die genauso gut gar nicht hätten stattfinden müssen oder am kommenden Montag abgewickelt werden konnten. Böse Zungen behaupteten, ihn zöge es freitags nicht zu früh nach Hause, weil er dort seiner Frau beim Putzen helfen müsse. Seit ca. 1 ½ Stunden plauderte Nassing nun schon mit dem Jugendoffizier, einem Hauptmann des Standortes und dem Beratungslehrer, einem weißhaarigen Oberstudienrat, der seine in keiner Weise notwendigen Minderwertigkeitskomplexe (er kam über den zweiten Bildungsweg, was eigentlich eine großartige Leistung ist) nicht nur durch einen würdevollen, schreitenden Gang, sondern auch durch kunstvoll mit einander verflochtene Schachtelsätze zu verbrämen versuchte. Seine ans Lächerliche grenzenden Auftritte hatten ihm im Kollegium den Beinamen ‘A 17’ eingebracht, womit ausgedrückt sein sollte, daß er noch jenseits der A 16er Besoldung des Schulleiters angesiedelt sein müßte, so es denn diese Besoldungsgruppe gegeben hätte. Immer, wenn Bergner diese mit raumgreifenden Armbewegungen und steif durchgedrücktem Rücken daher rudernde Gestalt sah oder seine Reden anhören mußte, dachte er an das Napoleon zugeschriebene Wort, wonach es vom Erhabenen bis zum Lächerlichen nur ein winziger Schritt ist.

Thema der drei Gesprächspartner war die Informationswoche, die der Jugendoffizier – sehr zum Ärger der friedensbewegten Gutmenschen der GEW-Betriebsgruppe des Kollegiums – seit Jahren für die Klassen der Berufsfachschule im März abzuhalten pflegte. Bisher hatte er das mit dem Direktorstellvertreter telefonisch abgesprochen, aber das reichte nun nicht mehr, da Nassing der Ansicht war, daß er mit dem Beratungslehrer zunächst ganz allgemein das Thema besprechen müsse und erst dann der Planungschef den Jugendoffizier zwecks detaillierter Planung zu übernehmen hätte. Der Stellvertreter wollte sogleich mit dem Hauptmann in seinen Raum zur Erledigung des Vorhabens gehen, aber er wurde von Nassing in einen Sessel gebeten, um von ihm und ‘A 17’ nochmals Allgemeines und Grundsätzliches zur involvierten Problematik des Auftretens des Jugendoffiziers zur Kenntnis zu nehmen, weil doch nun die politische Lage total entspannt, Deutschland nur noch Freunden umgeben und die Bundeswehr an sich doch überflüssig wäre, usw.

Nach einer guten halben Stunde schien sich das Auseinandergehen anzubahnen. Dabei wünschte Nassing dem Hauptmann, daß er nicht arbeitslos würde. Nach einer möglichen Entlassung hätte er bestimmt Probleme, da er doch nichts gelernt hätte und nur mit dem Spruch „Sie schauen auf meinen Daumen" – er untermalte seinen Monolog durch die Fingersprache (Daumen abwärts oder hoch), mündige Staatsbürger sich hinlegen bzw. aufstehen zu lassen – dann auch kein Geld mehr zu verdienen sei.

Nassing hatte selbstverständlich keinen Wehrdienst geleistet, konnte also eigentlich gar nicht mitreden. Er traf eine besonders pfiffige Entscheidung: Bundeswehr auf jeden Fall nein – das hätte aber evtl. bei einigen älteren Vorgesetzten übel aufstoßen können, Zivildienst zu unangenehm, zu seiner Jugendzeit auch noch nicht ganz gesellschaftsfähig, deshalb: Gang zur Polizei (was damals möglich war). Der Hauptmann sah Nassing betroffen an und sagte: „Das sind immer die gleichen Vorurteile, auf die ich stoße. Aber es ist gut, daß Sie die Sprache darauf bringen, denn so geben Sie mir die Gelegenheit, Ihre irrigen Ansichten korrigieren zu können." Nachdem Nassing gebrummelt hatte „Da bin ich aber mal gespannt" trug der Hauptmann vor, daß er genau wie er Dipl.-Betriebswirt wäre, sich schon an der Universität mit den Neuen Technologien beschäftigt, zudem zahlreiche Seminare in und außerhalb der Bundeswehr zum Thema Personalwesen besucht habe und sich durchaus in der Lage sähe, jederzeit in Nassings Berufsschule zu unterrichten. Das beabsichtige er aber nicht, da er für die Zeit nach dem Ablauf seiner Dienstzeit recht lukrative Angebote aus der Wirtschaft vorliegen habe. Nassing machte ein recht uninteressiertes Gesicht, denn niemand konnte sich daran erinnern, jemals von ihm gehört zu haben, daß er einen Fehler eingestanden hätte.

Schließlich gelang es dem Stellvertreter, den Hauptmann mit in seinen Raum zu nehmen, um den Ablaufplan zu besprechen. Der Offizier meinte beim Abschied, der Schulleiter hätte auf ihn einen gewöhnungsbedürftigen Eindruck gemacht und ob es nicht möglich wäre, die bisher üblichen Absprachen untereinander ohne ihn zu treffen. Als der Stellvertreter Herrn Nassing montags den Plan zwecks Zustimmung vorlegte, mußte er über den Hauptmann hören: „Ein ziemlich arroganter, eingebildeter und rechthaberischer Bursche, so wie man sich einen typischen Offizier der unangenehmen Sorte vorstellt." Der Stellvertreter bezog diesen Rüffel auch auf sich, denn der übelnehmerische Blick auf ihn ließ gar keinen anderen Schluß zu. Nassing rächte sich für die Richtigstellungen des Hauptmanns im März durch Eingriffe in dessen Vorträge, die er besuchte. Dem Stellvertreter sagte er dann voller Genugtuung: „Mit der Bildung dieses Hauptmanns ist es doch nicht so toll. Ich habe ihm, indem ich in seine Vorträge eingriff, manche wertvolle pädagogische Hilfe geben können, die er auch gerne angenommen hat."

Im August 1997 leistete Bergner seine 50. Wehrübung bei einem Führungsunterstützungsregiment ab. Dieses Regiment war nach der letzten großen Heeresreform nach der Wiedervereinigung aus einem Fernmeldekommando entstanden, was wiederum ein Fernmelderegiment als Ursprung hatte. Bergner kannte seit dem Jahre 1973 diesen Verband, war seitdem in ihm ein- und ausgegangen, hatte viele Freundschaften geschlossen, Weiterbildungen mit gestaltet und eine stete Verbindung gepflegt. Der Stellvertretende Regimentskommandeur befand sich zur Zeit der Wehrübung im Einsatz in Bosnien und wurde von einem pensionierten Oberstleutnant vertreten, der ein Jahr nach seinem Abschied somit seine erste Wehrübung ableistete. Bergner kannte ihn aus seiner Zeit als Bataillonskommandeur eines der drei zum Regiment gehörenden Fernmeldebataillone.

Dieser ‘kommissarische’ Stellvertretende Regimentskommandeur hatte nun die Idee, die seltene 50. Wehrübung in besonderer Weise zu würdigen. Der Regimentskommandeur war zu Anfangszeit der Wehrübung im Urlaub, so daß sein wehrübender Stellvertreter auf die Idee kam, eine Urkunde entwerfen zu lassen, die Bergner vom Befehlshaber des Wehrbereichskommandos, einem 2-Sterne-General, überreicht werden sollte. Die Urkunde war 60 cm x 40 cm groß, in einem Klemmglasrahmen befindlich und trug den Text: ‘Dankurkunde, Herrn Oberstleutnant der Reserve Dr. Klaus Bergner in Anerkennung und Würdigung für seine 50. Wehrübung im Zeitraum vom 11. bis 29. August 1997.’ Unterschrift, Dienstgrad, Ort.

Wenige Tage vor Ende der Wehrübung fand das traditionelle Sommer-Biwak in der Westfälischen Kaserne statt. Der Befehlshaber pflegte am Vorabend das Biwak zu besichtigen, um noch notwendige Korrekturen anzuordnen. Bergner sollte nun durch den Kordon von beflissenen Dienstgraden, die den General begleiteten, den Befehlshaber aufsuchen, sich vorstellen und ihm die 50. Wehrübung melden. Danach sollte dem General von seinem Adjutanten die Urkunde zugesteckt werden, die der Goldbetreßte verlesen und mit ein paar Small-talk-Formulierungen übergeben würde. Der Wehrübende, dem diese merkwürdige Art der Ehrung zugemessen sein sollte, lehnte die Form der Übergabe ab. Man mußte nun eine andere Art erdenken und die sah so aus: Der General würde nach der letzten Station des Biwaks, direkt neben dem Regimentsgebäude gelegen, dorthin kommen. Bergner sollte sich dann melden, worauf ein die Wehrübung würdigendes Gespräch geführt und die Übergabe der im Klemmglasrahmen befestigten Urkunde erfolgen sollte.

So geschah es: Der General erschien im Fleckentarnanzug mit aufgerollten Ärmeln – das symbolisiert bei den ganz hohen Dienstgraden immense Schaffenskraft und nie enden wollende Einsatzbereitschaft; ging in das Zimmer des aus dem Urlaub zurückgekehrten Regimentskommandeurs und der holte den Reserveoffizier. Nach der Meldung vor dem General meinte dieser: „Wußte natürlich, daß Sie Lehrer sind; habe mich deshalb auf einen kleinen dicken Glatzkopf mit Brille eingestellt – bin doch ganz angenehm überrascht; sehen ja aus wie ein richtiger Offizier!"

Bergner zog es vor, auf solch lustig gemeinte Taktlosigkeit nicht zu antworten. Über das anschließende Geschehen wird im späteren Verlauf dieser Lebenserinnerungen noch berichtet werden müssen; denn den Tiefpunkt geschmacklosen Benehmens kann man stets noch ein paar Spatenstiche tiefer verlegen.

 

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