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In unserer Zeit werden Wünsche nach sozialer Integration und dem Finden oder Herstellen kulturübergreifender Identitäten zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebensweise immer deutlicher und dringlicher artikuliert. Ein Zusammenwachsen der Kulturen wird erhofft, vorausgesagt oder sogar schon in Ansätzen für verwirklicht gehalten. Mindestens ebenso oft wird in der gegenwärtigen Welt aber auch kulturelle Verschiedenheit wahrgenommen, die Unvereinbarkeit der Kulturen behauptet und ihr angeblich unvermeidlicher Zusammenstoß befürchtet. Dass dabei ganz unterschiedliche und auch problematische oder überholte Kultur-Begriffe verwendet werden, ändert nichts an der Realität der Wahrnehmung der Verschiedenheiten mit all den destruktiven und das Zusammenwachsen erschwerenden oder verhindernden Konsequenzen, die aus der Wahrnehmung oft genug gezogen werden. Zusammenwachsen - und das ist wohl gerade der Sinn dieses vorsichtigeren Bildes – muss allerdings weder ein Verschmelzen von Kulturen noch ein Aufgeben der einen Kultur zugunsten der anderen bedeuten, wenngleich populäre Auffassungen vor allem letzteres für wünschenswert oder unvermeidlich halten, anstatt den Gewinn zu erkennen, den kulturelle Vielfalt auch zu bringen vermag.
Die Wahrnehmung einer – vermeintlichen oder wirklichen, beargwöhnten oder akzeptierten Verschiedenheit der Kulturen wird in den meisten Fällen an Sprache geknüpft: an den Gebrauch verschiedener Sprachen oder an bestimmte Unterschiede und Besonderheiten im Gebrauch einer gemeinsamen Sprache. Auch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen werden damit erklärt, dass sie zumindest unterschiedlichen kommunikativen Kulturen angehört hätten. Sprachliche Verschiedenheit wird als kulturelle wahrgenommen, oder eine anderweitig erfahrene oder vorausgesetzte kulturelle Verschiedenheit wird in der Sprache "der Andere" wiedergefunden. Probleme im Verhältnis der "Kulturen" zueinander werden den Unterschieden im Sprachgebrauch angelastet und als Störungen des gegenseitigem Verstehens interpretiert, oft genug auch als Ergebnisse eines sprachlichen oder kommunikativen Defizits der dominierten SprecherInnen. Damit werden kulturelle Unterschiede in einer letztlich fragwürdigen Weise auf sprachliche reduziert. Maßnahmen der Störungsbeseitigung oder Konfliktvermeidung, die sich auf solche Auffassungen gründen, müssen – nicht nur deshalb – zu kurz greifen.
Wenn sich Kulturen begegnen, sei es im Rahmen des Zusammenlebens in einer gemeinsamen Kommunikationsgemeinschaft oder als Folge der leichteren Überwindbarkeit einst trennender Grenzen, können sie auf diese Begegnung sprachlich reagieren. Etwa indem sie kommunikative Praktiken entwickeln, in denen Mittel und Muster einer "benachbarten" Kultur aufgehoben sind. So gesehen, können gegenseitige (und selbst einseitige) Beeinflussungen durch ein spezifisches "Verarbeiten" von kultureller Verschiedenheit zur Quelle von sprachlichen Innovationen werden. Besonders deutlich werden solche kulturübergreifenden Praktiken etwa in vielen Gruppen- und Fachsprachen.
Sprache kann also verbinden, aber auch trennen. Sie kann Identifikations-Symbol sein, aber auch zur Abgrenzung und Ausgrenzung benutzt werden, Nationalismus begründen und Diskriminierung rechtfertigen helfen. Es sind jedoch nicht die sprachlichen Unterschiede als solche, die zu Störungen oder zum Zusammenbruch von Kommunikation fuhren. Sprachen enthalten immer auch Möglichkeiten, Zusammenbrüche zu verhindern und Verstehensdivergenzen auszuhandeln – sofem die Bereitschaft dazu vorhanden ist. Beeinträchtigungen der Kommunikation ergeben sich weniger aus dem, was SprecherInnen sprachlich unterscheidet, als vielmehr daraus, wie solche Unterschiede erlebt und geistig verarbeitet werden. Störungen in der Kommunikation haben ihre Ursache häufig in den sozialen Beziehungen der SprecherInnen zueinander. Konflikte zwischen "Kulturen" sind nicht nur mehr als sprachlich bedingte Verstehensprobleme, sie sind in der Regel auch mehr als nur kulturelle Konflikte.
Das aus der Verschiedenheit von Kulturen erwachsende Sprachproblem soll in dem Buch sowohl empirisch in Bezug auf das Verhalten von sprachlichen Minderheiten und Mehrheiten als auch theoretisch in Bezug auf den Zugang zu eigenen und fremden Kulturen und dabei zulässigen Begriffsbildungen diskutiert. Gesichtspunkte und Fragen werden sein:
· "Anderssprechende" und sprachliche Nünderheiten in Deutschland und ihre Wahrnehmung durch Deutsche (autochthone Sprachnünderheiten wie die Sorben, Immigranten, Aussiedler, Flüchtlinge).
· Kulturelle (und sprachliche) Hegemonie: Anpassungen und Widerstände im sprachlichen Verhalten von Minderheiten. Stellung der deutschen Sprache in diesen Bevölkerungsteilen. Wann kann das Erlernen der deutschen Sprache eine Beeinträchtigung der eigenen Kultur sein oder so empfunden werden? Die Bedeutung des Code-Switching heute. Gibt es auch ein deutsch-deutsches Code-Switching?
· Welche sprachlichen Konsequenzen hat das Neben- oder Miteinander verschiedener Kulturen? Sprachliche Innovationen durch äußere Einflüsse oder durch kreatives (also "inneres") Reagieren auf kulturelle Verschiedenheit.
· Sprachideologie als Herrschaftsinstrument; Sprache als Mittel der Kontrolle über die Repräsentation der Welt.
· Kann man andere Kulturen so beschreiben, "wie sie sind"?
· Hat es eine deutsche Sprachspaltung gegeben? Welcher Art sind die deutsch-deutschen Unterschiede? Ist die gelegentlich behauptete "Sprachmauer" Realität oder Fiktion? Ist die deutsch-deutsche Kommunikation interkulturelle Kommunikation?
· Wie ernst ist die Verschiedenheit von Kulturen überhaupt zu nehmen? Besteht nicht gerade für ein Ausgehen von der Sprache die Gefahr, auch dort kulturelle Unterschiede anzusetzen, wo sie für die SprecherInnen gar keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung haben?
Inhaltsverzeichnis
Wolfdietrich
Hartung / Alissa Shethar
Vorwort
/ Introduction
1. Vergleichende Perspektive
Peter Hans Neide
Sprachideologie und Konfliktneutralisierung
Ronald Lötzsch
Ethnische resp. kulturelle Identität und Sprachgemeinschaft
2. Sprache als Gruppenpraxis
Inken Keim / Ibrahim Cindark
Umgang mit dem negativen Face: Formen von Kritik in zwei jugendlichen Migrantinnengruppen in Mannheim
Andreas Hieronymus
Vielsprachige Lebenswelten von Jugendlichen in den Einwandererstadtteilen St. Pauli und Altona. Orientierungen, Positionierungen und die Kreativität des Alltags
3. Identität in der Migration
Katharina Meng
- wir sind ja deutsche... Zum kulturellen Selbstverständnis einer russlanddeutschen Aussiedlerin
Volker Hinnenkamp
Deutsch-türkisches Code-Mixing und Fragen der Hybridität
4. Deutsch -deutsche Wahrnehmungen
Wolfdietrich Härtung
Über die Wahrnehmung sprachlicher Unterschiede. Methodologische Anmerkungen zu „Ostdeutsch" und „Westdeutsch"
Alissa Shethar
Foreign in the mother tongue? The problem of culture in 'east/west' contrastive / sociolinguistics ,
Margita Pätzold
Die Kategorie Vorurteil als Lernpotential
5. Das sprachliche Überleben einer Minderheit
Peter Barker
Die sorbische Sprache und ethnische Identität im Transformationsprozess nach der Vereinigung
Gisela Brandt
Zum Umgang mit sprachkulturellen Problemsituationen in der deutschen Sprachinsel Prisib/Aleksejevka (Baskortostan)
6. Sprache der nationalen Ideen
Stephen Barbour
Die Verteidigung der Sprache. Noch einmal die Fremdwortfrage im Deutschen
Parnal Chirmuley
Constructing the History of a Nation: Sanskrit äs the mirror of Indian culture in German philology
Jörg Roesler
Nicht allein anders Sprechende sind anders Denkende. Erfahrungen mit der Integration der Elsaß-Lothringer in das deutsche Reich 1871 -1913