Soziale Befreiung – Emanzipation – Bildung. Das 'Jahrhundert des Kindes'
zwischen Hoffnung und Resignation, Kolloquium der Leibniz-Sozietät zu Berlin 24. September 1999, trafo
verlag 2000
von Bodo Friedrich, Dieter Kirchhöfer, Gerhard Neuner,
Christa Uhlig (Hrsg.)
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Herbert Hörz
Anspruch und Realität – Eröffnungsansprache
Kap. I. Widersprüchlichkeit der Kindheit im 20. Jahrhundert
Hans-Joachim Gamm
Das Jahrhundert des Kindes ist abgelaufen. Nachdenken über das
Kind
Andreas Pehnke
ELLEN KEY, die Reformpädagogik und das Jahrhundert des Kindes
Wolfgang Keim
Kindesmißhandlung und Kindermassenvernichtung: ein Aspekt der
Verdrängung des Nazismus durch die Pädagogik im 20. Jahrhundert
Paul Mitzenheim
GUSTAV WYNEKEN – Initiator der Freien Schulgemeinde Wickersdorf und
Förderer einer neuen Jugendkultur
Christa Uhlig
Arbeiterbewegung und Bildungsreform. Zwischen Emanzipation und Selbstbegrenzung
Kap. II. Kindheit – pädagogische Reflexionen in beiden deutschen Staaten
Dietrich Hoffmann
Die Instrumentalisierung des Kindes zum Zwecke der Gesellschaftsveränderung
in der Epoche der Bildungsreform
Dieter Kirchhöfer
Ostdeutsche Kindheit in einer zweifachen Transformation
Wolfgang Eichler
DDR-Pädagogik – Emanzipationspädagogik oder Staatspädagogik?
III. Schule zwischen Tradition und Innovation
Gero Lenhardt
Schüler – die Kinder der Nation
Gerhart Neuner
Allgemeinbildung als Brücke zwischen Tradition und Innovation
Bodo Friedrich
Fachdidaktik Deutsch im “Jahrhundert des Kindes” – Gedanken zur MORITZ-Kunst
Wolfgang Steinhöfel
Zur Begabung und Begabtenförderung im zwanzigsten Jahrhundert
Die Autoren dieses Bandes
* * *
Vorwort des Buches
Das Aufwachsen der Kinder in unserer Gesellschaft ist zum Gegenstand einer
lebhaften öffentlichen Debatte geworden. Am Ende des Jahrhunderts
begegnet eine sensibilisierte Öffentlichkeit der Vision ELLEN KEYs
vom Jahrhundert des Kindes mit Skepsis und Betroffenheit. Die Geschichte
der Kindheit im 20. Jahrhundert liest sich als eine Geschichte der Extreme
(ERIC HOBSBAWM), in der neben Fortschritt der Verfall, neben Zivilisation
die Barbarei, Empathie neben Eliminierung stehen. Hunger, Säuglingssterblichkeit,
tödlich verlaufende Kinderkrankheiten oder ausbeuterische Kinderarbeit
sind in vielen Industrienationen zurückgedrängt; Machtgebrauch
und –mißbrauch der Eltern gegenüber Kindern sind eingeschränkt
worden; politische Partizipation und Mündigkeit haben als Erziehungsdoktrinen
einen Stellenwert erhalten. Anwalt des Kindes zu sein, ist heute eine durch
alle politischen Kräfte akzeptierte Formel, das Kindeswohl eine sozialadministrative
Maxime und das Recht des Kindes eine Losung des politischen Lobbyismus.
Dieses Jahrhundert trägt aber auch in Europa die massenhafte Vernichtung
kindlichen Lebens und die systematische Ausrottung von Kindern in Kriegen
und im Holocaust. Eine neue strukturelle Rücksichtslosigkeit erzeugt
Kinderarmut und soziokulturelle Isolierung von Kindern, deren Aus- und
Zurichtung auf Marktbedürfnisse und eine Ohnmacht gegenüber allmächtigen
Medien. Aus globaler Perspektive vertieft sich dieses widersprüchliche
Bild einer Kindheit, in der inmitten eines Warenüberflusses Kinder
verhungern, als Sklaven verkauft werden oder als Kindersoldaten selbst
morden.
Kindheit als soziales Phänomen trug offensichtlich alle politischen
und sozialen Widersprüche des 20. Jahrhundert in sich, was notwendigerweise
dazu führte, daß emanzipatorische Fortschritte einer modernen
Kindheit in soziale Bewegungen zur Lösung dieser Widersprüche
eingebunden waren. Ähnlich wie die Frauenemanzipation war die Emanzipation
des Kindes und die Verbesserung seiner Lebens- und Entwicklungsbedingungen
– spätestens seit der Genfer Deklaration der Kinderrechte des Völkerbundes
von 1924 – Teil von Bewegungen, die soziale Fragen in diesem Jahrhundert
zu lösen und die soziale Befreiung der bisher benachteiligten Klassen
und Schichten zu fördern suchten. Kindeswohl und Kindesrecht setzten
sich vor allem dort durch, wo sich auch ein sozialer Fortschritt abzeichnete.
Die Bildungs- und Sozialsysteme der sozialistischen Länder haben trotz
vielfacher gesellschaftlicher Deformierungen an der Erfolgsgeschichte von
Kindheit in diesem Jahrhundert ihren Anteil gehabt und stellen eine Erfahrung
dar, die begründende Hoffnungen und warnende Irrtümer einschließt.
Die widersprüchliche Realität des 20. Jahrhundert hat auch
eine Widersprüchlichkeit der pädagogischen Ideen und Visionen
hervorgebracht, und auch die Ziele, Inhalte und Subjekte der in der Bundesrepublik
oft angemahnten Bildungsreform werden sehr unterschiedlich – oft sogar
gegensätzlich – bestimmt. Einerseits findet sich die Hoffnung, durch
den Mut zur oder die Zeit für Erziehung einen Wertekonsens in der
Gesellschaft zu erzeugen, dem heranwachsende Generationen durch pädagogisches
Wirken verpflichtet werden. Andererseits mehren sich die Anzeichen dafür,
daß Bildungsfortschritte dieses Jahrhunderts rückgängig
gemacht werden und die Idee der öffentlichen Bildung aufgegeben werden
sollen. Zunehmend schwindet dabei der pädagogische Glaube an die Gestaltbarkeit
und Gestaltung von Bildungs- und Erziehungsverhältnissen. Das autonome
Individuum soll ohne staatliche Bevormundung und Stützung seine Bildungsvorstellungen
und seine Kompetenzen – sich selbst organisierend – entwickeln und realisieren.
Neoliberale Gesellschaftsmodelle lassen Fragen, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts
standen, wie die nach Staatlichkeit, Weltlichkeit und Einheitlichkeit der
Schule oder des Zugangs von Kindern aller sozialen Schichten zu den Bildungsgütern
der Menschheit am Ende des Jahrhunderts erneut aktuell werden. Fortschritt
im Bildungswesen könnte heute bedeuten, die liegengebliebenen Probleme
des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten.
Pädagogisches Denken bedarf ob seiner Beschädigungen durch
dieses Jahrhundert der Selbstaufklärung über Funktion und Historizität
der Erziehungswissenschaften. Emanzipatorische Theorien und die unterschiedlichen
Bildungsvorstellungen der Arbeiterbewegungen und demokratischer Strömungen
haben die Erfolgsgeschichte des Kindes in diesem Jahrhundert konzeptionell
wesentlich gestaltet und praktisch beeinflußt, zugleich aber auch
Lösungen hervorgebracht, die in ihren Wirkungen kritisch befragt werden
sollten. Die Sicht auf die in den realen sozialistischen Bildungssystemen
gegangenen Wege und deren Bindung an gesellschaftliche Fortschrittsvisionen
wie z.B. in der polytechnischen Bildung, der Verbindung von Arbeitswelt
und Schule, der Zusammenarbeit von Eltern, Schule, Betrieben und Organisationen
in einer öffentlichen Erziehung oder die Vermittlung einer wissenschaftlichen
Allgemeinbildung für alle Kinder sind in einem solchen Prozeß
eingeschlossen. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts besteht die Gefahr, daß
emanzipatorische Sichtweisen und real erreichte Gestaltungsversuche in
Vergessenheit geraten und aus dem “kollektiven Gedächtnis” verschwinden.
Es gehört zu den tragischen Verstrickungen des “Kalten Krieges”, daß
sich Pädagogen in Deutschland oft als Vertreter antagonistischer Gesellschaftsvorstellungen
verstanden und ihre Konzepte in bewußter Entgegensetzung zueinander
entwickelten. Das Kolloquium der Leibniz-Sozietät vom 24. September
1999 führte Erziehungswissenschaftler unterschiedlicher weltanschaulicher,
politischer, wissenschaftstheoretischer und regionaler Provenienz zusammen.
Es diente einer kritischen Verständigung über die theoretischen
Entwürfe und praktischen Szenarien der pädagogischen Wissenschaften,
es suchte nicht nach Konsens oder Dissens, sondern wollte Positionen dokumentieren,
von denen eine weitere vorurteilsfreie wissenschaftliche Analyse von Wissenschaftsentwicklung
möglich wird. Insofern ist auch die Vielfalt der Handschriften und
die Verschiedenartigkeit der Texte konzeptionelle Idee der Veranstaltung
und des vorliegenden Bandes.1 Die Zusammenkunft stand in der Tradition
der Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften der DDR, die
auch in der Vergangenheit den wissenschaftlichen Disput zu Bildungsfragen
pflegte.
Die Beiträge folgen keiner strengen inhaltlichen Logik, sondern
einer zeitlichen Strukturierung, die durch die Zäsur 1945 gesetzt
wird. Nach einem einleitenden Beitrag von HERBERT HÖRZ erörtert
HANS-JOCHEN GAMM die Widersprüchlichkeit in der Kindheit dieses Jahrhunderts.
In einem ersten Teil fragen ANDREAS PEHNKE, PAUL MITZENHEIM, WOLFGANG KEIM
und CHRISTA UHLIG nach Leistungen und Irrtümern von Wissenschaft und
Wissenschaftlern bis zum Zusammenbruch des Faschismus in Deutschland. DIETRICH
HOFFMANN, DIETER KIRCHHÖFER und WOLFGANG EICHLER erörtern in
einem zweiten Teil Kindheitsentwicklungen und pädagogische Reflexionen
darüber in den beiden deutschen Staaten nach 1945. In einem dritten
Teil verweisen GERO LENHART, GERHART NEUNER, BODO FRIEDRICH und WOLFGANG
STEINHÖFEL auf spezielle Fragen der Kindheits- und Bildungsgeschichte,
die über nationalgeschichtliche Zusammenhänge hinausgehen. Die
Publikation der Konferenzbeiträge im Rahmen der Abhandlungen der Sozietät
soll die Möglichkeit geben, sich über die unterschiedlichen Zugänge
zu einer Retrospektive auf Leistungen und Versäumnisse pädagogischen
Denkens in diesem Jahrhundert zu informieren und über Lösungen
für gegenwärtige Bildungsfragen – über den Kreis der pädagogischen
Wissenschaftler hinaus – ins Gespräch zu kommen. Der interessierte
Leser wird weitere Anregungen im JAHRBUCH PÄDAGOGIK 1999 (Verlag PETER
LANG) finden, das dem Jahrhundert des Kindes gewidmet war.
Berlin, Januar 2000
Die Herausgeber
Herbert Hörz