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Erzählung, 248 S., ISBN (10) 3-89626-220-3, ISBN (13) 978-3-89626-220-2, 15,80 EUR
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Ostberlin im Sommer 1960: Günter Jacobsen, gerade 17 Jahre alt, wird vom Vater, einem überzeugtem SED-Mitglied, wegen politischer Differenzen aus der elterlichen Wohnung geworfen. Von nun an wohnt er bei seiner Tante in Westberlin. 1961 erlebt er die Trennung Berlins und auch die Trennung der Eltern. Seine politische Überzeugung veranlaßt ihn zum Handeln. Zusammen mit vier anderen jungen Männern gräbt er einen Tunnel unter dem S-Bahnhof Wollankstraße hindurch in den Ostteil der Stadt und verhilft 50 Menschen zur Flucht nach Westberlin. Im Dezember 1961 wird Jacobsen aus der S-Bahn heraus verhaftet, in das Stasigebäude Normannenstraße gebracht und bekennt sich - nach endlosen Verhören - »schuldig«. 1962 kommt es zum Prozeß wegen Tunnelbau und Menschenschmuggel. Das Urteil lautet 8 Jahre Haft, allerdings wird Jacobsen dann vorzeitig in den Westen abgeschoben. Nach der Wende liest Jacobsen seine Stasi-Akte und erfährt, daß man ihn 1961 hätte freigelassen, wenn Vater oder Bruder bereit gewesen wären, ihn wieder in die Familie aufzunehmen. Das Buch beschreibt ein Leben im Berlin des Kalten Krieges, der auch in vielen Familien geführt wurde.
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Berlin, im Februar 1992. Es ist ein trüber, verregneter Sonnabend. Dieser Monat hatte viele Regentage und nur ganz selten Kälte und Schnee.
Der Schnee käme jetzt sowieso zu spät. Die Schulferien der Kleinen sind vorbei. Die Großen müssen arbeiten gehen, hätten keine Zeit für die weiße Pracht und nach der Arbeitswoche wären sie meistens geschlaucht und ausgelaugt. Im Winter Autos zu lackieren ist nicht so einfach. Holt man das Auto eine Stunde zu früh auf den Hof, bilden sich auf dem Lack Risse und es muß erneut gespritzt werden. Für die alten Autos, die ich im Februar lackiere, ist es der berühmte zweite Lack. Zu dieser Jahreszeit versuchen viele Autobesitzer ihr Auto abzustoßen. Junge Leute kaufen dann diese zweitlackierten und preiswerten Autos.
Ich betrachte mich im Spiegel. Na, Jacobsen, langsam könntest du dir wohl auch einen zweiten Lack genehmigen. Ich werde Gisela fragen, ob ich mich liften lassen soll. Was Frauen können, klappt auch bei uns Männern. Mal im Ernst, Jacobsen! Bist schließlich bald fünfzig Jahre alt. Jetzt wird das Alter langsam sichtbar! Mein Spiegelbild von heute, es sieht dem Spiegelbild von damals in einem anderen Spiegel, an der Wand eines Korridors in einer anderen Wohnung, nicht mehr ähnlich … zuviel passiert! So wenig, wie die Wohnung in Berlin-Wedding, der Wohnung meiner Eltern ähnelt …! Es ist jetzt mein Korridor, in meiner Wohnung! Vom Balkon habe ich einen weiten Blick die Seestraße entlang.
Ich gehe in mein Wohnzimmer, setze mich in den Sessel. Gisela, meine Lebensgefährtin, so nennt sie mein Vermieter, ist einkaufen. »Nur ein paar Kleinigkeiten«, hat sie beim Rausgehen gesagt, »… fürs Wochenende!«
Ich blättere in der auf dem Couchtisch liegenden Tageszeitung, lese halblaut: »… Aktuelle Berichte vom letzten Tag der Olympischen Winterspiele in Albertville in der ARD und ZDF um …« Ich lege die Zeitung wieder zurück auf den Couchtisch und komme wieder einmal in das große Grübeln:
Deutschland hat seit dreißig Jahren erstmalig nur eine deutsche Mannschaft. Mein Gott, fast 30 Jahre her, daß die Deutschen …! So ein Quatsch! War das alles notwendig, dieses Ost-Westtheater! Ich wollte damals nur Armin Hary sehen! Es sollte für lange Zeit meine letzte Olympiade sein! Wir saßen zu dritt auf der Couch, drüben! Jetzt gibt es kein hüben und drüben mehr! Wieviel von meinen 50 Jahren habe ich wirklich gelebt? Vor dem Knast höchstens acht bewußte Jahre. Nach dem Knast 15 Jahre? Jetzt, endlich, habe ich meinen Schutzengel gefunden. Gisela! Wenn Gisela nicht wäre, vielleicht hätte ich sogar noch einen Tunnel gebaut.
Ich nehme ihr Bild von der Wand. Eigentlich ein Doppelbild. Linke Hälfte Gisela und Günter am Wannsee. Rechte Hälfte, erst vierzehn Tage alt, beide am Brandenburger Tor. Das Bild soll so sein. Zum Geburtstag, um endlich den einen Geburtstag im »U-Boot« vergessen zu können. Es geht noch immer nicht, ohne daß ich meine Hände zu Fäusten forme. »Wenn ich den treffe, den Gries! Eine reinhauen müßte ich dem Kerl! Geht nicht! Sitze ich wieder wegen Körperverletzung. Anspucken, ginge! Muß ich höchstens ne’ Geldstrafe zahlen!«
Ich betrachte das Foto, meine Gisela. Sie ist so groß wie er. Mittelgroß heißt das im Amtsdeutsch. Fast dunkelbraune Haare und Locken, die locken mich immer wieder neu. Und die Augen. Meistens braun, groß, strahlend und ein Lachen dazu. Das ganze hübsche Gesicht lacht mit. Und die Haut, Pfirsichhaut, damals wie heute. Weich und glatt. Sie braucht keine Creme! Überhaupt eine Klassefrau! Eigentlich bin ich wunschlos glücklich, Gisela!
Ich küsse das Foto. »Fehlt nur noch ne’ Kleinigkeit. Irgendwann könnten wir heiraten.
Ich habe keine Angst davor, jedenfalls nicht so wie du vielleicht denkst. Gewiß, die erste Ehe ging bei jedem von uns in die Hosen. Meine hielt keine fünf Jahre. Mensch, Biggi! Was hatte ich im Knast von deinem Bluseninhalt geträumt! Du hast zwar auf mich gewartet. Und wir sind kindlich unschuldig in die Hochzeitsnacht geschliddert. Aber dann! Irgendwann ist dir ein Aufklärungsfilm nicht bekommen. Hausfrau und Mutter sein war dir zu wenig. Und ich hatte auch nicht immer Zeit für dich. Aber deswegen gleich den Film »Hausfrauenreport« Nachspielen zu wollen. Kerle in die Wohnung holen oder hingehen. Pfui Deibel! Ein Glück, daß ich dich voll erwischt habe, mit so einem Kerl! Nur ein Wort fiel damals: Scheidung! Dann wollte ich nie wieder Weiber sehen, nur arbeiten! Ging aber nicht! Ist wie Knast ohne Gitter! Aufstehen, arbeiten, schlafen gehen, aufstehen! Dann du! Ich bin noch nicht so weit zum Heiraten! Immer noch Zweifel an diesem oder jenem. Nicht an dir! Es ist die Vergangenheit! Meine Vergangenheit! Sie läßt mich nicht zur Ruhe kommen! Gisela spürt diese Unruhe in mir! Besonders nachts, wenn ich träume vom »U-Boot«! Oder wenn ich spreche: Zelle belegt mit …! Zum Kotzen!
Damit muß ich erst fertig werden. Die Schatten von damals besiegen, dann heiraten! Gestern habe ich meinen Antrag auf Einsicht in die Verwendung personenbezogener Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in der Glinkastraße abgegeben. Ich bekam sofort einen Stempel rauf, weil »Politisch Strafverfolgte« bevorzugt werden. Mal sehen, wann ich hingehen darf zur Einsichtnahme in meine Akte.
Noch ein Kuß aufs Foto. Danach kommt es an seinen Platz zurück. Gehe langsam zum Fernsehgerät, schalte ein, versuche mich auf die Sportübertragungen zu konzentrieren.
Die Wohnungstür öffnet sich. Leise. Kein Poltern wie damals bei meinen Eltern! »Hallo, Liebling, nimm mir bitte die Tüten ab. Meine Finger sind ganz klamm. Hab’ vergessen Handschuhe mitzunehmen.«
Ich gehe auf sie zu. Gebe ihr einen Kuß auf die Nase. »Friert die auch?« Dann nehme ich vorsichtig die Tüten entgegen. Bringe alles in die Küche. Drei Scheiben Kaßler, ne’ Büchse Bohnen. Alles da, was man zum Mittagessen und zum Abendbrot braucht. Der Sonnabend verläuft wie in vielen Familien. Locker, entspannt, ein bißchen Mittagsruhe, Kuscheln im Arm des anderen.
»Fritz hatte richtig gelegen mit seiner Meinung. Liebe muß man erleben, nicht beschreiben!«, fällt mir wieder ein.
Die Tage und Wochen vergehen. Der Wonnemonat Mai hat gerade angefangen. Da kommt am 6. Mai Post. Ein Brief vom »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik«.
Ich öffne ihn unten im Flur auf und lese im Gehen:
Sehr geehrter Herr Jacobsen,
die Bearbeitung ihres Antrages ist abgeschlossen. Die Recherche in den Karteien der Zentralstelle Berlin und der Außenstelle Berlin haben ergeben, daß eine umfangreiche AKTE 12/61-JACOBSEN zur Einsichtnahme vorliegt.
Bitte teilen Sie uns mit, schriftlich oder telefonisch, wann Sie hier im Hause Einsicht nehmen möchten. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß sich die vorliegenden Auskünfte/Unterlagen auf die bisher erschlossenen Bestände des Staatssicherheitsdienstes beziehen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß bei weiteren Erschließungsarbeiten noch Unterlagen zu Ihrer Person gefunden werden.
Mit freundlichen Grüßen …
Ich stecke den Brief in die Hosentasche. Beim Treppensteigen überfliege ich die Schlagzeilen der Zeitung. Gisela darf nichts merken. Ich will alleine hingehen. Sie soll den Kopf frei haben für Haushalt, Kind und Arbeit. Gleich heute nach dem Frühstück werde ich mich auf den Weg machen. Ich lese in der Zeitung:
»Marlene Dietrich gestorben im Alter von 90 Jahren in Paris!«
Das ist die richtige Ablenkung. Thema fürs Frühstück. Gisela ist zwar kein Fan von der Dietrich. Günter und Gisela gehen gemeinsam das bewegte Leben der Filmdiva von einst durch. »Auch ein Held ihrer Zeit«, stellt Gisela fest. »Heute in der Zeitung. Morgen vergessen. Nichts ist älter als die Zeitung von gestern.«
Ich verstehe die Anspielung. Damals standen Abschnitte aus meinen Jugendjahren in einer Tageszeitung. An meinem Leben war keiner wirklich interessiert. Ich war nur Mittel zum Zweck!
»Ist ja gut, Gisela. Das nächste Mal mache ich alles besser!«
»Blödsinn, noch ein Leben gibt es nicht. Und überhaupt. Die Tunnelbauer geraten in Vergessenheit. Die Mauerschützen sind gefragt. Neue Prozesse. Aber die sollen von oben nach unten gehen. Erst dieses Politbüro in den Knast schicken. Den Honecker lassen die doch wieder laufen. Und dann die NVA-Führungsmannschaft. Alle einsperren!«
»Hör auf, Gisela. Du regst dich wieder auf und nachher haste Magendrücken. Nicht gut für dich. Bis bald. Ich meine bis heute Abend. Der Lack ruft.«
Noch ein Kuß zum Abschied. Fritz hatte mir geraten:
»Gehe nie im Zorn von ihr, lieber mit einem Kuß!
Schmeiße keine Blicke an der Tür. Vielleicht ist an der Ecke Schluß!«
Ich fahre heute lieber mit dem Bus zur Arbeit. Ist besser für die Nerven. Zeige meinem Chef den Brief. Der nickt nur. »Ist gut, kannst gehen, aber mache dich frisch, du wirst sicher Überraschungen erleben.«
Ich nicke nur, winke lässig mit der Hand: »Wird schon nicht so schlimm werden. Bin bloß neugierig auf die Stasi Protokolle.«
Um 10 Uhr erreicht ich die Glinkastraße. Zeige dem Pförtner den Brief. »Moment, bitte, ich rufe den zuständigen Bearbeiter!«
Ich zünde mir eine Zigarette an. Jetzt wird mir doch etwas mulmig zu mute. Die Bearbeiterin erscheint. Eine unauffällige Person. Graues Kostüm mit weißer Bluse. Goldbrille. Kurz geschnittenes Haar mit Grauton. Eine zeitlose Erscheinung.
»Folgen Sie mir bitte in den Leseraum.«
Der Leseraum ist nicht größer als ein Wohnzimmer. Vier Tische, vier Stühle, vier Lampen. Spartanische Ausstattung.
»Herr Jacobsen, wollen Sie wirklich die Unterlagen einsehen. Es ist ein Ordner mit rund 500 Blättern. Die Namen der Personen sind geschwärzt. Sie werden es sicher verstehen.«
Sie stellt den Ordner auf den Tisch, nachdem ich genickt habe.
»Ich lasse Sie jetzt allein, Herr Jacobsen. Wenn Sie fertig sind, klingeln Sie bitte. Die Klingel ist neben der Tür. Bitte entnehmen Sie keine Unterlagen. Es ist alles numeriert. Aufzeichnungen dürfen Sie sich machen.«
Ich lehne mich zurück. Wird alles drin stehen? Warum es zum Bruch mit meinen Eltern kam? Warum ich in den Westen mußte zur Tante?
Bevor ich lese, will ich mich versuchen zurück zu erinnern. Wie war das damals in Ostberlin, im Olympiajahr 1960 …
© trafoverlag 2005