Elias Gutenfeld

"Jonathan wider die Geier oder Was das Leben eines Halbjuden prägte”

autobiographische Erzählung,  [= Autobiographien, Bd. 20], trafo verlag 2005, 187 S., ISBN (10) 3-89626-219-X, ISBN (13) 978-3-89626-219-6, 15,80 EUR

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Klappentext

 

Seit Jahren ist das Tagebuch seiner Mutter - geschrieben über Jonathan und für Jonathan - in seinem Besitz. Sehr einfühlsam vertraut sich seine Mutter Lisa dem Büchlein an, beschreibt seine ersten Schritte, zeichnet Erlebnisse, Empfindungen und Gedanken des kleinen Sohnes auf. Jonathan wird Seite für Seite gewahr, welch unendliche Liebe seiner Mutter die Feder führte, welche seelischen Auseinanderset­zungen sie um ihrer und seiner selbst durchlebte.

Geschuldet den Zeitumständen, die vor allem durch die Repressalien der National­sozialisten geprägt sind, kann Lisa sehr vieles in den Zeilen des Büchleins nur andeuten. Man erahnt ihre Ängste um die Zukunft. Aber eine erlösende Antwort auf Jonathans "Warum" kann sie nicht geben. Dennoch übermittelt das Tagebuch eine Botschaft an den Sohn. Ihre Aufzeichnungen ermöglichen es ihm, die Zwiesprache mit der Mutter fortzuführen - jetzt aber aus seiner, Jonathans Sicht.

 

LESEPROBE

 

Prolog

Vor langer, langer Zeit lebte hinter Hügeln und grünen Wiesen in einem kleinen Häuschen am Rande eines kleinen Örtchens ein kleiner Junge. Seine Eltern hatten ihm den Namen Jonathan gegeben. Jonathan hatte den großen Wunsch, wie seinesgleichen Kind zu sein, umherzutollen und Spielgefährten zu haben. Aber er durfte den großen Garten nicht verlassen, mußte immer allein spielen. Seine Eltern hatten ihm verboten, in den angrenzenden großen, schwarzen Wald zu gehen. Dort sei es gefährlich, böse Untiere trieben dort ihr Unwesen. Oft kletterte Jonathan auf einen Baum und schaute traurig ins Land.

Eines Tages kam eine Schar großer Jungen vorbei. Sie lockten so lange, bis sich Jonathan bereden ließ und das Verbot seiner Eltern in den Wind stieß. Er kletterte über den Zaun und lief zu den Burschen. Darauf hatten diese nur gewartet. Sie lockten ihn weiter vom Garten fort, tiefer in den Wald hinein. Als sie weit genug waren, daß vom kleinen Haus nichts mehr zu hören und zu sehen war, verwandelten sich die Jungen in häßliche braune Geier und begannen Jonathan erst mit ihrem Krächzen zu reizen, dann mit scharfen Schnäbeln und spitzen Greifern zu zausen und schließlich zu peinigen. Dann steckten sie ihn in einen großen Korb wie in einen Käfig und trugen ihn fort, hoch in die Lüfte.

Zu Hause aber warteten die Eltern. Als es bereits dunkelte, wurden beide unruhig. Wo blieb nur der Junge? Der Vater ging in den Garten, rief und suchte, suchte und rief. Jonathan blieb verschwunden. Nach langem Nachforschen entdeckte der Vater an einer Stelle des Zaunes herabgebogene Äste, die niedergetreten waren und wie eine natürliche Leiter an der Einfriedung lehnten. Hatte der Bengel doch das Gebot übertreten und war in den Wald gelaufen? Nochmals rief der Vater in den dunklen Wald hinein. Auf sein Rufen kam keine Antwort. Nur aus der Ferne krächzten wie zum Hohne irgendwelche Vögel, wie Raben oder Krähen anzuhören.

Eisige Furcht umkrampfte das Herz des Mannes. Trotzdem nahm er seinen ganzen Mut zusammen und kletterte über die Umzäunung. Dann ging er in den Wald, erst langsam, dann schneller und schneller. Tief und tiefer hinein wagte er sich. Verzweifelt rief er nach Jonathan, suchte und lauschte.

Um ihn herum waren die vielfältigsten Geräusche. Manches Mal schien ihm, daß ihn irgendwelche Gestalten umschlichen und zischend krächzten. Er versuchte die Geräusche nicht zu beachten und ging weiter, ständig nach Jonathan rufend.

Endlich kam er an eine Lichtung. Auf der Waldblöße war es noch etwas hell. Dort weidete eine Schar Graugänse, die ein riesiger, schneeweißer Ganter anführte. Das Geschleiche und Gezische kam nicht aus dem Wald heraus, als fürchte es die Helle, vielleicht auch die Gänse. In seiner Not rief der Vater wiederum und mit letzter Hoffnung nach Jonathan.

Und da geschah das Unglaubliche: Der außerordentlich große Anführer der Gänseschar kam auf ihn zu und fragte nach seiner Not. Völlig verwundert, daß ihn das Tier in der Menschensprache anredete, entlud sich das ganze Leid des Vaters und weinend berichtete er, daß er seinen Sohn suche, der aus unbegreiflichen Gründen in den Wald gegangen und verschwunden sei.

Der Ganter beruhigte den Mann. “Sei ruhig und geduldig, lieber Freund. Bleibe inmitten meiner Gänse, dort wird Dir nichts geschehen. Ich aber werde aufsteigen und Ausschau halten nach Deinem Jonathan. “Sprach’s, informierte seine Vögel und erhob sich in die Lüfte mit mächtigem Flügelschlag. Ein paar seiner Gänse begleiteten ihn, die anderen scharten sich um den Vater. Bald war nur noch das Rauschen der Schwingen in der Luft zu hören, dann blieb auch das aus.

Der Vater verblieb bei den Gänsen. Diese versuchten ihn durch lustiges Geschnatter aufzumuntern. Er wartete lange. Tiefe Nacht wurde es. Kein Stern erstrahlte. Er fror, wartete und harrte des Kommenden. Stunden vergingen, nichts regte sich, nichts geschah. Der Mann glaubte alles verloren. Er war verzweifelt.

Doch auf einmal war da wieder das bekannte Rauschen in der Höhe. Bald konnte der Vater große Vögel ausmachen, es waren der Ganter und sein Gefolge. Sie flogen ungewöhnlich langsam, als hindere sie etwas. Als dann endlich alle auf der Lichtung eingefallen waren, kam der Ganter schwer atmend auf den Mann zu. Er war zerzaust, hatte Blutspuren auf dem Gefieder und entkräftet. Er trug etwas auf dem Rücken. Ein kleines Bündel schien das zu sein. Beim Vater angekommen, griff er mit dem Schnabel das Bündel und ein kleines Menschlein rollte auf die Wiese.­

Es war Jonathan, aber ganz winzig. Der Mann schrie auf vor Freude. Gleichzeitig war er entsetzt, warum war sein Sohn so klein geworden? Was sollte denn nun mit diesem Winzling unter den Menschen werden? Er rief den Kleinen an, doch der reagierte nicht. Der Ganter beruhigte ihn.­

“Warte ein wenig, lieber Mann. Laß mich nur etwas zu Luft kommen und mich ein wenig erholen. Wir mußten einen harten Kampf bestehen. Braune Geier waren es, die deinen Sohn entführten. Unsäglich schwer war es, ihn diesen Bestien zu entreißen. Doch es gelang uns. Er ist noch einem Zauber unterlegen, der ihn so klein macht und ihm das Bewußtsein raubt. Doch es wird mir gelingen, ihn wieder in seine ursprüngliche Größe zu verwandeln, ihn aus dem Braunen Bann zu erwecken. Indes brauche ich dazu Kraft, um den bösen Zauber zu lösen. Laß mir nur etwas Zeit.”

Gern wartete der Vater, in vollem Vertrauen auf diesen ungewöhnlichen Vogel.

Als es dann dämmerte, sprach der Ganter lange und eindringlich mit dem Däumling. Gewaltig schien er sich anzustrengen. Nach einer gewissen Zeit, die dem Vater ewig vorkam, begann Jonathan zu wachsen. Er wuchs und wuchs, besann sich auch wieder seiner Stimme. Freudig umarmten sich Vater und Sohn sowie beide den Ganter. Unendlich dankbar war der Mann den Gänsen.

Doch der Gänserich winkte nur ab. “Wir kennen die Gefahr, die von diesen Ungeheuern ausgeht. Von Tag zu Tag werden sie dreister. Vor keinem Verbrechen scheuen sie zurück. Wenn Du uns künftig helfen willst, der Gefahr, die von diesen Scheusalen ausgeht, entgegenzutreten, wäre das Dein bester Dank.”

Freudig willigte der Vater ein. Doch er ahnte nicht, was mit diesem Versprechen auf ihn zukommen sollte.

Die Gänse ergriffen ein großes Tuch, nahmen Leinen in die Schnäbel, die an das Tuch geknotet waren und baten Vater und Sohn auf das absonderliche Gefährt. Bald darauf erhoben sie sich in die Lüfte. Auf diese Weise brachten sie Vater und Sohn bis zum kleinen Häuschen, vor dem sie auf der Wiese landeten.

So lernte Jonathan den Ganter Martin kennen.

Die Mutter aber war außer sich vor Freude, ihre beiden Männer gesund wieder zu haben. Sie war vor Angst und Sorge um Mann und Sohn fast ohnmächtig geworden. Und dann war da noch etwas. Während beide abwesend waren, trieb sich allerlei Gesindel um das Anwesen herum. Es blieb unsichtbar. Aber das zischelte und krächzte, lärmte und drohte.

So oder so ähnlich könnte vielleicht ein Märchen beginnen. Doch bei unserer Erzählung handelt es sich nicht um ein Märchen, wenngleich der Phantasie an vielen Stellen freien Lauf gelassen ist und versucht wird, in das Reich der Wünsche und Träume eines heranwachsenden Menschen hinein zu schauen.

Das eigene Erinnern an das Vergangene eines Menschen erscheint ihm überwiegend vage und verschwommen. Aber es gibt “Guckfenster” darinnen, aus denen Bruchstücke des Gelebten, Episoden des Erlebten wie Blitze herein leuchten. Solchen Lebensfunken, mitunter völlig aus dem Zusammenhang gerissen und ungeordnet, will ich in der vorliegenden Erzählung nachgehen und versuchen, aus ihnen – grobkörnig zusammengesetzt – das Schicksal eines Menschenkindes nach zu zeichnen.

Der Kern unserer Begebenheit beruht auf wahrem Geschehen, soweit ein Kind sich wahrhaft erinnern kann und soweit die Geschehnisse belegt sind. Einige Ereignisse oder Zusammenhänge sind objektiv nicht mehr nachzuvollziehen und müssen deshalb durch Annahmen ersetzt werden.

Namen und Orte sind in den meisten Fällen abgeändert.

Da die Erzählung nicht Anspruch auf historische Authentizität erhebt, ist bei den Zitaten meist auf eine Quellenangabe verzichtet.

 

*

 

Die Geschichte beginnt in den letzten Jahren des unermeßliches Unglück bringenden “Tausendjährigen Reiches” in dem kleinen Ort Fischburg und will von Jonathan, seinem Vater Hardmut, aber vor allem von seiner unvergleichlich schönen, gütigen und mutigen Mutter Lisa berichten.

In diesen bösen Tagen des Spätherbstes 1943 wußte Jonathan noch nichts von dem unendlichen Leid, das ihn und seine Lieben so ganz plötzlich treffen sollte.

Diese Tage brachten den ersten Bruch seines Leben.

Der Jonathan von heute ist nicht mehr der Bub von damals. Er ist in den Lebensabend eingetreten. Er möchte es zwar nicht wahrhaben, daß es wirklich so ist, aber wer will das schon. Untrügbare Zeichen, daß dem so ist, melden sich, ohne erst um Erlaubnis zu fragen. Andererseits fordert die Vernunft, mit dem erreichten Alter, wenn das Leben hurtig bergab geht, bewußt und klug umzugehen. Und täglich beansprucht diese Herausforderung ihren Tribut.

Man könnte sagen, daß Jonathan das Auf und Ab des Daseins mehr oder weniger erfolgreich meisterte. Wenn da auch viele Schnitte und Brüche seinen Erdenweg kerbten, die dem widersprechen könnten. Vielleicht dürfte er sogar mit sich und dem Gelebten zufrieden sein. Wenn es nicht etwas gäbe, das ihn seit seiner Kindheit nicht losläßt, das er bei allem Bemühen nicht lösen und von dem er sich nicht lösen kann. Es belastete ihn, als er noch ein Kind war, es belastete ihn sein ganzes Leben.

Bis heute.

Jetzt aber, als gereifter Mann, der auch viele seiner Ideale verhöhnt und gar zerstört sieht, muß er feststellen, daß Ungewißheit und Zweifel stärker als je in sein Bewußtsein drängen. Mit der für ältere Menschen typischen Eigenschaft, daß Erinnerungen aus der Kindheit, gute wie böse, mehr und deutlicher aus dem Gedächtnis hervortreten, bestimmt ein sehr peinigendes “Warum” sehr fordernd Gedanken und Handeln von Jonathan.

Er sucht nach der Wahrheit über das Wie und Warum des Schicksals, das in jenen dunklen Zeiten über seine Mutter, über seine Familie und ihn selbst kam.

Jonathan ist von dem furchtbaren Ende seiner Mutter belastet.

Mit der Suche nach den Umständen, weshalb seiner Mutter ein solch grausamer Tod beschieden war, hätte er weitaus früher beginnen sollen. Er hat es nicht, darum läßt es ihn auch jetzt nicht mehr los. Es ist unverzeihlich, aber er tat es nicht. Von den Menschen, die ihm aus der damaligen Zeit bekannt sind und die er fragen könnte, lebt kaum noch jemand. Noch Lebende können oder wollen keine Antwort geben. Oder er möchte sie nicht fragen.

Er erkannte für sich fast noch als Kind Verpflichtung und Vermächtnis, künftig solche oder ähnliche Geschehnisse in der Entwicklung seines Landes zu verhindern und besseren Idealen zum Durchbruch zu verhelfen. Das half ihm über viele bohrende Fragen und Zweifel – aus der Vergangenheit geboren – hinweg und ließ diese in den Hintergrund treten.

Seit Jahren ist das Tagebuch seiner Mutter, geschrieben über ihn und für ihn, in seinem Besitz. Erst in jüngster Zeit setzt sich Jonathan von Grund auf mit diesen Aufzeichnungen auseinander. Sehr einfühlsam vertraut sich seine Mutter dem Büchlein an, beschreibt seine ersten Schritte, zeichnet Erlebnisse aber auch Empfindungen und Gedanken des kleinen Sohnes. Sie müht sich in diesem Zwiegespräch, einen Weg zu finden, den kleinen Menschen zu verstehen und aus ihm einen guten Erdenbürger zu formen, ohne ihn dabei zu verformen. Jonathan wird Seite für Seite gewahr, welch unendliche Liebe seiner Mutter die Feder geführt hat.

Das Tagebuch übermittelt aber auch eine Botschaft an den Sohn.

Der Zeit, den Verfolgungen von Seiten der Nationalsozialisten geschuldet, kann Lisa sehr vieles in den Zeilen des Büchleins nur andeuten. Man erahnt ihre Ängste um die Zukunft, aber eine erlösende Antwort auf Jonathans “Warum” ist auch aus den Aufzeichnungen nicht sofort und ohne Mühe zu erkennen.

Und so ist das Tagebuch der Mutter sein kostbarstes Gut, das sie ihm hinterlassen hat. Es gibt, vermittelnd über ihre Gedankengänge, Aussagen über die Zeit und ihn selbst. Es läßt die seelische Auseinandersetzung erkennen, die seine Mutter um ihrer und seiner selbst führte. Es ermöglicht – neben dem hohen Wert des Gedenkens – die Zwiesprache der Mutter fortzusetzen, jetzt aber aus seiner, also aus Jonathans Sicht. Er entnimmt aus ihrer Niederschrift ihr Wesen, ihre Menschlichkeit und läßt ihn das Damals erahnen.

Jonathan erkennt aber auch seine Aufgabe. Und wenn nicht seine Mutter, so muß er selbst sie sich stellen.

Die “Neue Zeit”, mit deren Anbeginn 1989 ein weiterer Bruch in Jonathans Leben erfolgte, bringt neben all dem Erwarteten und Unerwarteten auch sehr erschreckende Erscheinungen und Gefahren mit sich.

Niemals hätte es Jonathan für möglich gehalten, daß der in einem der schrecklichsten aller Kriege geschlagene und von aller Welt geächtete Faschismus je wieder zu einer Ideologie werden könnte, der außer einigen Unverbesserlichen von damals auch Menschen von heute, junge Menschen, nachlaufen könnten. Er muß erkennen, daß Unverständnis gegenüber Menschen anderer Nationen und Rassen hinüber wächst zu einem dumpfen Haß, und das weitverzweigt in die Gesellschaft hinein. Er hatte angenommen und nach seiner Ansicht auch ein wenig dazu beigetragen, daß neofaschistischem, rassistischem und antisemitischem Gedankengut für immer der Boden entzogen ist. Er war von seinem Staat gewöhnt und nahm das nun auch von dem Neuen Deutschland an, daß dieses sich mit Gesetzen von einer solch verbrecherischen Gesinnung wie dem Neonazismus schützen würde, und das mit aller Konsequenz. Jonathan muß nun sehen, daß – wie so viele andere – auch er geirrt hat. Er muß das Gegenteil erleben. Es empört und erschüttert ihn.

Es ruft seine Gegenwehr auf den Plan.

  ENDE

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