Benny Heumann, Jahrgang. 1907. Ein politischer Architekt

[=Autobiographien, Bd. 1], Veröff. aus Anlaß des 90. Geburtstages von Benny Heumann im September 1997, trafo verlag 1997, 250 S., zahlr. Fotos, ISBN 3-89626-081-2, 17,80 EUR 

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 7

I. Kindheit in der Schweiz: 1907-1920 9

II. Sowjetrußland: Mai 1920 - März 1921 37

III. Berlin: April 1921 - Mai 1933 55

IV. Moskau: Juni 1933 - Oktober 1941 99

V. Im Krieg: Oktober 1941 - Oktober 1945 147

VI. Wieder in Moskau: November 1945 - Mai 1954 177

VII. Das Leben in der DDR. Interview mit einem Neunzigjährigen 197

    Die Ankunft. Wohnung, Familie, Arbeit 197

    Der Streit um die Bebauung des Berliner Zentrums; eine gesamtdeutsche Architektendelegation nach China; was ist sozialistisches Bauen? 205

    Mauerbau; Konstruktivismus und Realismus in der Architektur; Siebenjahrplan und Neues Ökonomisches System 215

    Konformisten und Rebellen; die Intelligenzfeindlichkeit der SED; Architektur als Repräsentation von Macht 225

    Der Palast der Republik; das Demokratiedefizit der kommunistischen Bewegung; über Freunde und Reisen 237

Bildnachweis 246

Personenregister 247

 

 

Vorwort

Die Arbeit an meinen Erinnerungen hat mich lange beschäftigt. Bereits 1986 war das Manuskript, zuletzt 400 Seiten stark, fertig und ging an den Dietz-Verlag Berlin, wo das Buch erscheinen sollte. Eine Druckgenehmigung gab es dennoch nicht, weil eine Gutachterin eingewandt hatte, daß das Kapitel über die dreißiger Jahre in Moskau wegen der dort geschilderten Repressalien den Lesern in der DDR nicht zuzumuten sei. So blieb das Manuskript liegen, und dies auch nach der politischen Wende 1989, als meine Erinnerungen als "Enthüllungsliteratur" nicht tauglich waren.

Zudem war mir inzwischen klar geworden, daß die Aufzeichnungen nicht, wie ursprünglich geplant, mit meiner Übersiedlung aus der Sowjetunion in die DDR enden dürften, sollten sie das Interesse heutiger Leser wecken. Auch konnten Reflexionen und Wertungen über die zurückliegenden Jahrzehnte nicht mehr durchweg dieselben sein wie zur Zeit der ersten Niederschrift. Jedoch: Einem solchen Umfang an zusätzlicher Arbeit fühlte ich mich weder physisch noch psychisch gewachsen.

Den Anstoß, dennoch einen neuen Anfang zu wagen, gab mein Moskauer Freund Juwenalij Krutjakow. Bei einem Besuch 1995 in Berlin zeichnete er mehrere Gespräche über mein Leben auf Tonband auf. Mir wurde klar, daß es Begebenheiten, Episoden, Bekanntschaften gab, die nach wie vor mitteilenswert waren. So suchte ich und fand Helfer, die sich des Manuskripts annahmen, es um verzichtbare Passagen kürzten und seine Lesbarkeit verbesserten. Vor allem der Historikerin Ulla Plener bin ich zu Dank verpflichtet, die sich dieser Arbeit mit viel Engagement und Sachkenntnis widmete.

Bruno Flierl machte den Vorschlag, über mein Leben in der DDR ein längeres Interview anzufügen, und er wußte auch die richtige Person dafür: Die Architekturwissenschaftlerin Simone Hain, die dies sehr einfühlsam und mit verblüffender Detailkenntnis tat. Meine Tochter Inge Münz-Koenen kümmerte sich um die Gesamtredaktion und der Verleger Wolfgang Weist erklärte sich sofort bereit, das Manuskript in die Reihe "Autobiographien" des trafo verlages aufzunehmen. Das fertige Buch ist mein schönstes Geschenk zum 90. Geburtstag.

All den engagierten und fleißigen Helfern bin ich zu großem Dank verpflichtet. Für mich waren die Gespräche mit ihnen allen und die damit verbundenen wiederaufgelebten Erinnerungen, die vielen konkreten Nachfragen und wechselseitigen Anregungen eine unvergeßliche Erfahrung, die mich in der Hoffnung bestärkt, daß die Erinnerungen an mein wechselvolles Leben ihre Leser finden werden.

Berlin, Oktober 1997
Benny Heumann

 

Leseprobe Kapitel I

In Genf geboren, in Paris, Moskau und Berlin aufgewachsen – so wird man ungewollt und zuerst auch unbewußt von verschiedenen Sprachen, Kulturen und Milieus geprägt. Als Sohn einer einfachen russischen Arbeiterfamilie war mir dieser Lebensweg nicht vorgezeichnet. Er ergab sich aus der Biographie meiner Eltern, die sich ein Kind eigentlich nicht leisten konnten. Und das nicht nur wegen der bitteren Armut, in der Mutter und Vater lebten. Vielmehr waren es die erzwungene Heimatlosigkeit und die allgegenwärtige Gefährdung der nackten Existenz, die aus dem politischen Engagement der Eltern in der revolutionären Bewegung erwuchsen.

Ich stamme aus einer Familie alter Bolschewiki. Meine Eltern wurden wegen ihrer Teilnahme an der Revolution in Rußland 1905 und aktiver illegaler Arbeit, wie zum Beispiel dem illegalen Druck der Leninschen "Iskra" in Jekaterinoslaw, von der zaristischen Geheimpolizei Ochrana verhaftet und nach Sibirien verbannt. Sie waren damals noch nicht verheiratet und kannten sich nur aus der gemeinsamen illegalen Arbeit. Mit Hilfe gefälschter Papiere, in denen meine Mutter Bluma Tarschis als Frau meines späteren Vaters Boris Deyner angegeben wurde, gelang die Flucht nach Westeuropa. Sie flohen in die Schweiz, und ihr erster Wohnsitz dort war Genf, wo sich damals eine Reihe russischer Emigranten versammelt hatte und wo auch Lenin einige Jahre seiner Emigration verbrachte. Mutter war Mitglied der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, seit 1903 gehörte sie zu den Bolschewiki, mein Vater bereits seit 1900. Beider Leben war, wie es damals für die russischen Arbeiter typisch war, von Entbehrungen geprägt. Mutter arbeitete als Hutmacherin, Vater war Buchbinder. Ihre Ehe war zuerst eine politische Allianz, dann wurde ich am 7.9.1907 geboren. Wie meine Mutter mir später erzählte, war ich nicht so sehr ein Kind der Liebe als vielmehr des Wunsches, überhaupt ein Kind zu haben. Unter den Bedingungen der Emigration, mit der damit verbundenen Ungewißheit, gehörten Mut und Opferbereitschaft dazu. Und ich blieb daher das einzige Kind. Die Ehe meiner Eltern war keine glückliche. Sie waren ein ungleiches Paar. Beim Vater zeigten sich – sicherlich auch als Folge schwerer Erlebnisse – bald Anzeichen einer geistigen Erkrankung, die zur Depression führte; er konnte stundenlang am Tisch sitzen und traurige Volksweisen singen. Mutter dagegen war eine äußerst aktive und energische Frau, die sich nie unterkriegen ließ. Sie übernahm die Haushaltsführung, arbeitete viel und trug auch die Last meiner Erziehung. So ist es verständlich, daß für mich meine Mutter die Elternschaft verkörperte, die Erinnerungen an meinen Vater blieben sporadisch, verblaßten schließlich. Er starb bereits 1912 in Paris in einer Nervenheilanstalt.

Das Schwerste für meine Eltern war, eine materielle Existenzgrundlage zu schaffen. Mutter war bemüht, als Hutmacherin ihre Arbeit zu Hause zu erledigen. Aber trotzdem mußte sie mich häufig allein lassen, und mein mörderisches Geschrei im Alter von einem Jahr – oder auch etwas älter – alarmierte stets die Nachbarn, die meiner Mutter empört Vorhaltungen machten. Aber was blieb ihr anderes übrig?

Wir wohnten in Genf im Arbeiterviertel Plainpalais, wo auch die anderen russischen Emigranten wohnten. Mutter wurde von ihnen beauftragt, für sie einen billigen Mittagstisch einzurichten. Das war kein leichtes Unterfangen, denn sie konnte nicht kochen, woher auch. Bis dahin hatte sie nur Hunger gekannt, kaum warmes Essen. In Rußland bestand ihre Hauptnahrung aus Schwarzbrot, sauren Gurken, Heringslauge und ähnlichem. Daher hatte sie schon seit ihrer Kindheit ständig Kopfschmerzen und Gallenkoliken. Das Kochenlernen war begleitet von einer Mischung aus Tränen und Lachen: Zuerst versuchte sie, irgendeinen Teller Suppe zu kochen, und dann wurde das gewissermaßen vervielfältigt. So einfach war diese Lehre. Später wurde meine Mutter eine erstklassige Köchin, aber nur nebenberuflich.

1908 tauchte plötzlich Lenin bei uns auf. Er hatte von der Existenz des Mittagstisches erfahren. Das Essen war billig, denn der Preis schloß nur die Selbstkosten ein und war keine materielle Existenzgrundlage für uns. Mutter kannte Lenin vorher nicht. Fotografien von ihm waren damals nicht bekannt. Er war zu dieser Zeit bartlos, und sie verhielt sich zu ihm, als er eines Tages auftauchte, zurückhaltend, mißtrauisch, ja fast abweisend. Erst als sie erfuhr, wer er ist, wandelte sich ihr Verhalten. Von da an kam Lenin mit seiner Frau, Nadeshda Konstantinowna Krupskaja, häufiger zu uns, später auch ihre Mutter, Jelisaweta Wassiljewna Krupskaja. An diese ersten Begegnungen mit Lenin und seinen Angehörigen kann ich mich nicht erinnern. Davon weiß ich aus Mutters Erzählungen.

Wir waren in dieser Zeit fast ausschließlich von russischen Emigranten umgeben. Das Leben war sehr schwer. Die sogenannte demokratische Schweiz gewährte zwar Asyl, aber das war auch alles; eine materielle Basis zu finden war mehr als beschwerlich. Zu uns kamen häufig russische Studenten, die sich das Geld als Hofmusikanten verdienen mußten. Viel Freude empfand ich, wenn sie kamen und musizierten und ich auf meinem kleinen Schaukelpferd zuhören konnte. Das ist meine am weitesten zurückliegende Erinnerung. Ich war damals etwas über zwei Jahre alt. Es gab unter den Studenten einen spaßigen Streit über meine Musikalität und meinen zukünftigen Beruf. Der eine behauptete, ich würde ein großer Musiker werden, während mich der andere im besten Fall als mittelmäßigen Buchhalter sah. Beide haben sich geirrt.

Wir blieben drei Jahre in Genf und zogen 1910 nach Paris um. Dort lebte Lenin mit seinen Angehörigen seit Ende 1908. Gewissermaßen als Mitglieder der revolutionären russischen Kolonie und wegen der besseren materiellen Möglichkeiten dort zogen auch wir nach Paris um. Natürlich zehrte der Kampf um die Existenz viele Kräfte auf, denn die Arbeitszeit betrug 10 bis 12 Stunden und noch mehr. Wenn meine Mutter zu Hause arbeitete, so deshalb, weil es sehr schwer war, für eine Ausländerin "normale" Arbeit zu bekommen. Die Heimarbeit wurde schlechter bezahlt, und außerdem kannten die Unternehmer nicht die geringsten sozialen Verpflichtungen. Mein Vater arbeitete in einer großen Druckerei als Buchbinder. Ich erinnere mich, wie wir das Essen zu ihm in den Betrieb brachten und er es an einer Tischecke oder auf dem Stuhl verzehrte. Es herrschte eine gedrückte Stimmung: Seine Krankheit machte sich immer mehr bemerkbar. Wahrscheinlich wohnten wir nicht weit vom berühmten Park Jardin den Luxembourg, denn ich erinnere mich, daß ich oft dort spazierenging, mit einer Kinderfrau oder einer Bekannten. Kindergärten gab es nicht, und ich wäre sonst ganz allein geblieben, denn Mutter war von der Arbeit voll in Anspruch genommen.

Der angestrengte und ausgefüllte Tag erlaubte meiner Mutter nicht, systematisch politisch zu arbeiten, Selbststudium oder dergleichen zu betreiben. Aber soweit es ihr möglich war, beteiligte sie sich an Versammlungen, in denen Lenin auftrat. Nach einer dieser Veranstaltungen hatte meine Mutter ein kurzes Gespräch mit Lenin. Er hatte ein feines Gespür dafür, wenn jemand etwas auf dem Herzen hatte, und er ging selbst auf sie zu und fragte sie, was sie bedrückte. Meine Mutter beklagte sich darüber, daß ihr Wissen und die Zeit ihr nur Kleinarbeit für die Partei ermöglichten. Lenin meinte aber, massenhaft ausgeübte Kleinarbeit sei für die Partei sehr bedeutsam.

Schwierig war es, wenn es darum ging, Material für die Partei zu drucken oder zu verschicken – woher das Geld nehmen? Eine der Quellen dafür waren Veranstaltungen, die mit Lotterien verbunden wurden oder Kostümfeste mit bezahltem Eintritt. Zu einem solchen Kostümfest hatte sich Mutter eine originelle Verkleidung ausgetüftelt, die gleich das lebhafte Interesse Lenins hervorrief, und er fragte sie nach dem Sinn. Zur einen Hälfte war sie als Mann verkleidet und trug dazu einen Korb am Arm, gefüllt mit Gemüse, zur anderen Hälfte als Frau verkleidet, mit einer Aktentasche und Büchern unterm Arm. Es sollte ihre Vorstellung von der Gleichberechtigung ausdrücken: In 50 Jahren würde im Sozialismus der Mann im Haushalt helfen und die Frau studieren und sich bilden wie die Männer. Lenin sagte zu ihr, das werde viel schneller Realität werden, als sie sich das vorstellte.

Mutter war ohne Übertreibung eine talentierte Hutmacherin. Mit ihren geschickten Fingern, ihrem Organisationstalent und ihrer Energie meisterte sie jede Situation. Sie begann gut zu verdienen, konnte ihre Partei etwas besser unterstützen. Wo es notwendig war, illegal zu wirken, war sie eine Meisterin der Konspiration. Sie verstand es, sich elegant und mit Geschmack zu kleiden. Manches nähte sie sich selbst. Durch ihr Äußeres und ihr selbstbewußtes Auftreten führte sie den Gegner irre, der nicht vermutete, daß sie eine "Rote" sei. Ein ausgesprochener Mensch der Praxis, paßte sie sich jeder Situation an, lernte schnell eine neue Sprache, ohne die Orthographie und die Grammatik zu beherrschen. Sie hatte ja niemals eine normale Schule besucht. Alles Wissen war autodidaktisch erworben, in Arbeitspausen oder in schlaflosen Nächten. Ich erinnere mich mit größter Bewunderung an ihre Erzählung, da sie mit 15 Jahren, nachdem sie von einem Privatlehrer notdürftig lesen und schreiben gelernt hatte, "Das Kapital" von Marx die Nächte über studierte. Und die wichtigsten Gedanken prägten sich ihr tief ein. Schon als ich Kind war, verstand es meine Mutter, mir den Wert der menschlichen Arbeit so überzeugend darzulegen, daß ich, voller Mitleid und Rührung über das schwere Brotverdienen, Hemmungen bekam, mit Appetit zu essen. Und das wollte viel heißen, denn in diesem Alter zeichnete ich mich durch eine solche Gefräßigkeit aus, daß meine Mutter voller Sorge mit mir zum Arzt ging. Er erklärte, daß ich mir durch zu vieles Essen eine Magenerweiterung zugezogen hätte. Mein maßloser Appetit mußte gezügelt und das Essen gewissermaßen rationiert werden.

Mutter konnte politisch-ökonomische Fragen in sehr einfachen und überzeugenden Worten darlegen. Das brachte die Erfahrung der illegalen Parteiarbeit im zaristischen Rußland mit sich, wo Analphabeten, die Arbeiter und die Bauern, gewonnen werden sollten. Mutter wurde für mich das lebendige Beispiel einer echten Kommunistin, für die Partei und Revolution der Lebensinhalt waren. Die Gespräche, die Menschen, die Probleme, die mich umgaben, alles war von Politik geprägt.

Kinder sind bekanntlich sehr empfindlich für gute Gefühle. Durch seine außerordentliche Kinderliebe zog Lenin in mein Herz. Er wirkte auf Kinder wie ein Magnet und umgekehrt zog es ihn zu den Kindern. Kleine Kinder gehen gern zu den Erwachsenen und sitzen mit Vorliebe auf deren Knien. Lenin war für mich ein guter Onkel, und so setzte ich mich öfter zu ihm. Aber Lenin arbeitete viel: er las und schrieb. Ein anderer Erwachsener oder der eigene Vater hätte gesagt: "Jungchen, geh’ in das andere Zimmer" oder "Geh’ in die Ecke und spiele allein, ich habe keine Zeit". Lenin ließ mich auf seinen Knien sitzen. Er malte lustige Zeichnungen auf kleine Zettelchen, gab sie mir, ich versuchte die Zeichnungen wiederzugeben. Während dieser Zeit las und schrieb Lenin. Ich wartete auf die nächste Zeichnung und saß still. Sooft ich Kindern davon erzählte, wurde immer spontan die Frage gestellt, warum Lenin keine Kinder hatte. Ich weiß nur, daß Lenin und seine Frau, die beide ein inniges Verhältnis zu Kindern hatten, es sehr bedauerten, keine eigenen Kinder zu haben.

Aus der Pariser Zeit stammt die Bekanntschaft mit Abraham Belenki, der später bei der Tscheka für den persönlichen Schutz Lenins verantwortlich war, nachdem ein Attentat auf ihn verübt wurde. 1920 besuchten wir ihn im Kreml. Die Pariser Gruppe der Bolschewiki war recht umfangreich. Es gehörten zu ihr Genossen, die später in Sowjetrußland eine bedeutende Rolle spielten. Sie hatten in Lonjumeau bei Paris die Parteischule besucht, so Nikolai Semaschko (später Volkskommissar für Gesundheitswesen), Michail Wladimirski, Antonow und Kusnezow (das waren wahrscheinlich Pseudonyme), Belenki (die Brüder Abraham und Grischa), Ines Armand, Ludmilla Stal, Natascha Gopner, D. M. Kotljarenko, Sinowjew, Lenin, Kamenew, Slata Liliana, Wassilij Taruta, Mark (Ljubimow), Ljowa (Wladimirow), insgesamt mehr als 40 Personen. In ihren Erinnerungen an diese Zeit schrieb Nadeshda Krupskaja: "Eine Zeitlang versuchte ich mit der Genossin Stal bei den Arbeiterinnen unter den Emigranten-Modistinnen, Näherinnen usw. zu arbeiten. Eine Anzahl Versammlungen wurde abgehalten, die Arbeit litt jedoch darunter, daß sie gering eingeschätzt wurde ... Lenin hielt diese Arbeit für notwendig." Diese Zeilen bestätigen den Erlebnisbericht meiner Mutter über ihr Gespräch mit Lenin, in dem es um die Bedeutung der Kleinarbeit ging.

Während unseres Aufenthaltes in Paris nahmen sich im November 1911 die beiden Lafargues (Laura, Tochter von Karl Marx, und ihr Mann Paul Lafargues) das Leben, was viel Staub aufwirbelte und Diskussionen hervorrief. Sie hatten den freiwilligen Tod gewählt, weil sie sich zu alt und zu schwach fühlten, um für die Partei tätig zu sein und daher ihr weiteres Leben als nutzlos ansahen. Wie Krupskaja schrieb, machte ihr Tod auf Lenin einen tiefen Eindruck, er soll gesagt haben: "Wenn man nicht mehr imstande ist, für die Partei zu arbeiten, muß man der Wahrheit ins Auge sehen und so sterben können wie die Lafargues."

In den Märztagen des Jahres 1912 gingen meine Eltern mit mir zur traditionellen Manifestation an der Mauer der Kommunarden auf dem Friedhof "Père-Lachaise". Angeregt von der Kampfstimmung der Demonstranten, wollte ich mich auch irgendwie aktiv äußern, rannte plötzlich aus den Reihen der Demonstranten auf einen Gendarmen zu und schrie ihn mit dem Ruf "Mort aux Vaches" (Tod den Kühen) an. Ich hatte diesen Ruf ("Vaches" war der Spitzname für die Gendarmen) von anderen Demonstranten gehört. Der Gendarm versuchte, der Szene die Spitze zu nehmen, indem er in geheuchelter Kinderliebe (oder war sie echt?) mich auf den Arm nahm und mir zulächelte. Aber ich ließ mich nicht beschwichtigen, und zum Vergnügen der Demonstranten schlug ich mit meinen kleinen Fäusten gegen seine Brust und schrie weiter "Mort aux Vaches". Verärgert stellte mich der Gendarm wieder auf die Beine, und meine Mutter holte mich schnellstens wieder zu sich in den Demonstrationszug.

In Paris lebte ein junger Cousin meiner Mutter, Oscar Schmidt. Er emigrierte nach der Revolution 1905 aus Odessa und fristete in Paris ein dürftiges Dasein. Dort erlebte er eine romantische Liebe. Die Frau eines Millionärs, sie hieß Blanche, verliebte sich in den armen Schlucker, trennte sich von ihrem Mann und lebte unter schweren materiellen Bedingungen in einer glücklichen Ehe mit dem unbekannten Oscar, obwohl sie 10 Jahre älter war als er. Selbstlos wie sie war, hat sie später während der Naziokkupation ihren Mann vier Jahre lang im Keller versteckt. Nach der Befreiung kam er wieder an die Oberfläche. Seine latente poetische Natur brach sich Bahn, und er fing an, Gedichte, vornehmlich Kindergedichte, unter dem Pseudonym Claude Paris, zu schreiben, die veröffentlicht wurden. In den Jahren vor der faschistischen Besatzung baute er medizinische Instrumente. 1930 habe ich ihn in Paris besucht, und er kam dann mit seiner Frau Blanche für einige Wochen zu uns, als auch meine Tante Sonja Tarschis, die jüngste Schwester meiner Mutter, bei uns zu Besuch war. Das war das letzte Mal, daß wir ihn sahen. Später habe ich mit seiner Hilfe auf Umwegen mit meiner Mutter von Moskau nach Berlin korrespondiert. Er schrieb mir übrigens bis zum zweiten Weltkrieg lange, interessante und wirklich poetische Briefe in französisch. Inzwischen war das Französische für ihn zur Muttersprache geworden.

Als Lenin 1912 mit seiner Frau Paris verließ – sie siedelten damals nach Krakau um, um der Arbeiterbewegung in Rußland näher zu sein –, war das für Mutter ein Signal, die Hauptstadt Frankreichs zu verlassen, und wir landeten wieder in der Schweiz. In Basel gelang es ihr, mich in einem Kindergarten unterzubringen, wo ich schnell Kontakt zu den Kindern fand. Obwohl ich Mutters einziges Kind war, wurde ich von ihr nicht verwöhnt, ja streng erzogen. Später meinte sie sogar – zu streng. Den größten Spaß machte mir das Zeichnen, eine Begabung, die sich bei mir früh zeigte und nicht zuletzt den Impuls für meine spätere Berufswahl als Architekt gab. Um diese Zeit zeichnete ich eine Stadt mit Häusern und Denkmälern – und auch ein kleines Häuschen für meine Mutter. Ich erklärte ihr das damit, daß alte Leute wieder klein werden würden. Diese Zeichnungen bewahrte meine Mutter bis zu ihren letzten Lebensjahren auf.

In Basel wurde ich gleich zu Anfang Zeuge eines großen internationalen Ereignisses: des berühmten sozialistischen Kongresses (24.-25. November 1912), auf dem bedeutende Führer des europäischen Proletariats sprachen. Die internationale Beratung fand im Baseler Münster, einer sehr schönen gotischen Kathedrale, statt. Ich saß zuoberst auf der Empore, und die Redner wirkten sehr klein. Aber ich war sehr beeindruckt von der Atmosphäre. An zwei Redner erinnere ich mich noch genau: an Jean Jaurés und Leon Blum. Wie verschieden sie waren! Meine Sympathie gehörte Jean Jaurés, einem glänzenden Volksredner, der zum Kampf gegen den Krieg aufrief und 1914 zu Kriegsbeginn von Chauvinisten ermordet wurde. Leon Blum sprach dagegen salbungsvoll wie ein Priester. Während des Kongresses hatte ich Rosa Luxemburg gesehen.

Mein Vater war in Paris geblieben, wo er kurze Zeit darauf in einer Nervenheilanstalt verstarb. Wir lebten zuerst in Basel und fuhren kurze Zeit später noch einmal mit einem Expreßzug nach Paris. Ich erinnere mich gut an diese Fahrt, weil mir dieser Zug mit seiner für die damalige Zeit hohen Geschwindigkeit sehr imponierte. In sechs Stunden waren wir in Paris. Der Koch vom Speisewagen hatte große Sympathie für mich, einen Russenjungen, der perfekt Französisch sprach und einen guten Appetit hatte, – er gab mir eine Extraportion in der Küche. In Paris waren wir nur wenige Tage. Sie waren sehr schwer – es war der Abschied von meinem Vater. Und weil ich schon mit fünf Jahren verstanden hatte, daß es die Trennung zwischen meinen Eltern bedeutete, weinte ich wie mein Vater, der die Mutter beschwor, zusammenzubleiben. Später begriff ich, daß die Härte meiner Mutter vor allem in meinem Interesse lag. In der Schweiz lernte sie dann den Zuschneider Otto Heumann kennen, der dort als wandernder deutscher Handwerksgeselle seine Bettstatt aufstellte. Er sollte ihr zweiter Mann werden, vorerst war er für mich ein guter, kinderfreundlicher Onkel.

Wie für alle Kinder war natürlich das Weihnachtsfest das Schönste. Einmal wurde mir erklärt, daß es dieses Jahr anders sein würde, und ich war sehr traurig, weil ich keine Weihnachtsvorbereitungen sah. Man kann sich aber meine Freude vorstellen, als ich am Heiligabend ins Zimmer trat und einen leuchtenden, strahlenden, geschmückten Weihnachtsbaum sah. Das war die letzte Friedensweihnacht 1913. 1914, unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg, unternahmen wir einen wunderschönen, unvergeßlichen Ausflug in das Berner Oberland. Mit dem Dampfer glitten wir über den Thuner und den Interlakener See. Von dort begann der Aufstieg über die Alpenwiesen, übersät mit Alpenrosen, bis zum Eigergletscher. Mutter und ich machten hier halt, während Otto Heumann eine gefährliche und halsbrecherische Kletterpartie riskierte. Zu dritt stiegen wir auf den Eiger an die 3000 m hoch. Noch heute wundere ich mich darüber, wie ich mit noch nicht 7 Jahren diese Tour mitmachte. Dafür konnte ich auf dem Rückweg vor Beinmuskelschmerzen keinen Schritt mehr tun. Todmüde kamen wir in Basel an.

Der Ausbruch des ersten Weltkrieges ging auch an unserer Familie nicht spurlos vorüber. Mutter lebte ohne offizielle Eheschließung mit Otto Heumann zusammen. Als deutscher Staatsangehöriger meldete er sich freiwillig im deutschen Konsulat in Basel. Das führte zu Auseinandersetzungen mit meiner Mutter, der konsequenten Kriegsgegnerin. In seiner Verblendung und Naivität sagte Heumann, es würde nur einige Monate dauern, und dann käme er zurück. Mutter meinte dagegen, daß es ein langer und blutiger Krieg werden würde. Trotz großer innerer Enttäuschung gab sie Otto nicht auf. Und tatsächlich, er wurde schnell kuriert und verstand bald den wirklichen Charakter des Krieges. Mutter gelang es sogar, dank ihrer Meisterschaft in Konspiration, sich an der Grenze mehrmals mit ihm zu treffen. Sie riet ihm, wie er sich verhalten sollte. Vorsichtig begann er mit politischer Arbeit. Gegen Kriegsende wurde er in einen Soldatenrat gewählt. Später wurde er Anhänger des Spartakusbundes, beteiligte sich an den Januarkämpfen in Berlin und an der Münchener Räterepublik 1919, wurde Mitglied der KPD.

Schon vor dem Kriege wurde ich bei einer Lehrerfamilie, unweit von Basel, untergebracht. Der Lehrer hatte noch einige andere Gäste in Pension. Der Aufenthalt dort war nicht angenehm. Es herrschte eine spartanische und mit Prügelei verbundene Lebensweise. Es war für mich ein kleines Fest, wenn ich sonnabends nach kilometerweitem Fußmarsch zu meiner Mutter kommen durfte. Die größte Strafe war für mich, wenn ich am Sonnabend vorher noch einen großen, rohen Zwiebelkuchen zum Bäcker bringen mußte. Wie meine Mutter hatte ich eine große Aversion gegen Zwiebeln und Knoblauch, und schon vom Geruch schüttelte es mich. In dem kleinen Ort wurde ich eingeschult, nicht gleich zu Beginn des Schuljahres, sondern etwas später, im Frühsommer. Ich wurde gehänselt, aber ich ließ mich nicht provozieren, machte den Spaß mit. Das größte Gaudi war für uns, wenn irgendein Betrunkener vor der Schule auf der Wiese schnarchte und wir Regenwürmer oder ähnliches auf ihm herumkrauchen ließen. Bei Kriegsbeginn wurden wir in Baracken umquartiert, weil die Schule vom Schweizer Militär belegt war.

Die Kriegsfront war nur wenige Kilometer entfernt. Die Artilleriekanonade war mitunter so stark, daß die Scheiben zitterten und wir den Lehrer nur schlecht verstanden. Die Klassen waren überfüllt, wir waren an die 60 Schüler. Es war die Volksschule. Wie damals üblich, schrieben wir mit Griffeln auf Schiefertafeln. Natürlich war das kein vollkommener Unterricht. Nur das Nötigste wurde einem beigebracht. Da die Front so nah war und wir uns den Krieg in kindlicher Naivität romantisch vorstellten, konnten wir nicht der Versuchung
widerstehen, nachts mit älteren Schülern heimlich die verlassenen Schlachtfelder aufzusuchen und Pickelhelme und sogar Ulanenlanzen mitzuschleppen und damit zu prahlen. Die Brutalität des Krieges und die Gefahren unterbanden schnell unsere abenteuerlichen Vorhaben.

Allein geblieben, verließ Mutter bald Basel und zog mit ihrer aus Rußland geholten älteren Schwester Zipa, einer Hebamme, in die Hauptstadt der Schweiz, nach Bern. Dort wurde wieder eine Pension – Pension Tarschis (so der Geburtsname der beiden Schwestern) – mit einem Mittagstisch eröffnet. Wieder waren die russischen politischen Emigranten unsere Stammgäste. Allmählich tauchten auch andere auf. Zu dieser Zeit erlebte ich dort Lenin mit seiner Frau und deren Mutter häufiger und schon bewußter. Sie waren aus Poronin über Krakau, wo sie der Ausbruch des Weltkrieges überraschte, im September 1914 wieder in die Schweiz gekommen. Ungefähr um dieselbe Zeit trafen wir aus Basel in Bern ein. In der Länggasstraße mieteten wir eine größere Wohnung (es waren ja Räume für den Mittagstisch nötig – zwei Räume). Sie befand sich gegenüber der berühmten Schokoladenfabrik "Tobler". Täglich zogen die verführerischen Düfte in unsere Wohnung. Man kann sich vorstellen, wie ich einen uns bekannten russischen Arbeiter beneidete, der dort beschäftigt war. Er brachte mir öfter Schokolade mit, und ich konnte es einfach nicht begreifen, warum er nicht immerzu Schokolade aß.

Lenin, Krupskaja und deren Mutter wurden unsere häufigen Mittagsgäste. Ich wurde immer neugieriger auf ihn, denn ich bemerkte die große Achtung, die man ihm entgegenbrachte. Ich fühlte ja auch seine große Kinderliebe. Die drei saßen meist allein an einem runden Tisch. Lenin kam fast immer mit Büchern unter dem Arm. Am Tisch schlug er gleich die Bücher auf, machte sich Notizen in einem Heft, und wenn die Suppe aufgetragen wurde, aß er lesend weiter, die Suppe wurde oft kalt. Sein Verhalten wunderte mich, weil mir beigebracht worden war, daß während des Essens nichts anderes gemacht werden solle. Unter den Gästen war auch Ines Armand, eine gute Freundin der Familie Lenin, seine enge Kampfgefährtin, eine kleine, blasse und lebhafte Frau, die französisch sprach, aber auch gut russisch, denn sie lebte in Rußland und war nach vielen Gefängnisjahren in der Schweiz gelandet. Ebenso war mehr oder weniger häufig Sinowjew da mit seinem Sohn Stjopa, der mein Spielgefährte wurde. Auch Schklowski gehörte zu diesem Kreis. Wie Mutter später erzählte, war Sinowjew immer bemüht, in der Nähe Lenins zu sein, zeichnete sich dabei durch eine unangenehme Unterwürfigkeit, ja fast Lakaienhaftigkeit aus, widersprach niemals, verbarg die eigene Meinung.

Gleich in den ersten Tagen seines Berner Aufenthaltes wurde Lenin äußerst aktiv, um alle Kräfte gegen den Krieg zu sammeln. Er war viel und häufig unterwegs, organisierte, erklärte. Er fand aber auch Zeit für die geliebten Spaziergänge. Auch nutzte er sie zu ergiebigem Meinungsaustausch. Seine Liebe zu Kindern ließ ihn Zeitreserven finden. In Bern veranstaltete er mit einigen Kindern, zu denen auch ich gehörte, in seinem Zimmer eine sehr bescheidene, aber lustige Weihnachtsfeier. Der Baum war nur mit buntem Papier geschmückt, aber der Höhepunkt war das Spiel. Lenin sang mit uns und spielte, als wäre er in unserem Alter, er sprang über die Stühle, kroch unter dem Tisch hindurch. Ich habe die Wohnung noch immer in Erinnerung, sie befand sich irgendwo am Stadtrand, es war eine enge Gasse, nur einige Meter breit, und gegenüber war eine Mauer. Eines Tages kam Lenin zu uns in die Küche und bat um Essen für zwei Personen. Meine Mutter wußte aber, daß sie zu dritt waren und wollte dementsprechend drei Portionen ausgeben. Er lehnte ab, bezahle für 2 Personen, und er war nicht zu überreden, die 3. Portion kostenlos anzunehmen.

Ein elementares Naturereignis, ein Wolkenbruch, wie ich ihn niemals später in dieser Wucht erlebt habe, blieb in meinem Gedächtnis haften. Es war nachmittags, aber es wurde dunkel wie in tiefster Nacht. Sturm und unwahrscheinliche Regenmassen verwandelten die Straßen in reißende Flüsse. Es gab Opfer unter der Bevölkerung. Der Sturm war so stark, daß ich aus dem Fenster beobachten konnte, wie ein Kind, das sich an einem Metallzaun festzuhalten versuchte, hochgeschleudert und auf den Boden geworfen wurde. Wir haben noch lange nach dem Wolkenbruch mit Eimern Wasser aus unserer großen Eck-Loggia schöpfen müssen.

Mutter siedelte Ende 1915 nach Zürich über, ich blieb bei meiner Tante, sie wurde mir eine zweite gute Mutter. Die eigene Mutter sah ich nur noch selten, wenn sie zu Besuch kam. Einmal fuhr ich allein, ich war 8 Jahre alt, zu ihr nach Zürich. Das Haus stand an einem Abhang. Es gab dort viel Grün, und der Blick fiel auf eine schöne mittelalterliche Kirche. Mutter wohnte in einem möblierten Zimmer. Sie lebte in Zürich, weil sie hier bessere Arbeitsmöglichkeiten hatte, denn Zürich war die größte Stadt in der Schweiz, mit großem Fremdenverkehr, es war eine Art Modezentrum. Als Direktrice leitete sie bei einem Privatunternehmer das Hutatelier, verdiente verhältnismäßig gut. Das Atelier war in der Bahnhofsstraße, der Hauptstraße der Stadt, mit viel Publikumsverkehr, so daß das Geschäft florierte. Meine Tante verstand es in verhältnismäßig kurzer Zeit, mein Interesse für Literatur, Kunst und Geschichte zu wecken und führte mich behutsam über die Märchenwelt in den Bereich des Schönen ein. Sie weckte in mir früh die Begeisterung für die Kunst Griechenlands. Ich verschlang mit wachsender Spannung Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums. Die griechische Götterwelt wurde mir bald sehr vertraut, wie die Illias und die Odysse Homers. In Bern begann ich in einer Musikschule Musikunterricht zu nehmen, nachdem eine Prüfung meine Musikalität bestätigt hatte. Zum Üben mieteten wir ein Klavier.

Hier und da tauchten bei uns Fritz Platten, der Sekretär der Sozialdemokratischen Partei, und Robert Grimm, der Führer der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz auf. Allerdings war es häufiger seine Frau, Rosa Grimm, die unser beständiger Gast wurde, auch später, als sie sich von ihm scheiden ließ. Sie war eine glänzende Journalistin, kannte sehr gut die Probleme des Theaters, schrieb deutsch, das sie so gut beherrschte wie das Russische. Um diese Zeit tauchte auch der Vertreter der linken deutschen Arbeiterjugend Willi Münzenberg bei uns auf. Mir fiel er damals durch seinen Thüringer Dialekt und durch seinen leichten Buckel auf. Er lief, wie es damals bei der Jugend üblich war, mit dem Schillerkragen herum. Wie Krupskaja in ihren Erinnerungen schrieb, gab es in der Schweiz damals viele Jugendliche aus den verschiedenen kriegführenden Ländern, die nicht am Krieg teilnehmen wollten und in die neutrale Schweiz flüchteten. Diese Jugend war revolutionär gestimmt.

Fritz Platten wurde damals in Arbeiterkreisen populär. Er wirkte sehr jung, war schlank, groß und temperamentvoll. In meiner Kindheit erlebte ich solche Ereignisse durch Personen am Rande mit, ohne mir natürlich ihrer Bedeutung bewußt zu sein. Aber ich fühlte, daß die Gespräche und die Menschen etwas sehr Wichtiges waren. Ihre Namen waren mir geläufig. Die Geschichte dieser Jahre war für mich gewissermaßen personifiziert.

Die Schweiz ist landschaftlich von unbeschreiblicher Schönheit. So oft es ging, unternahmen wir Ausflüge und Spaziergänge. Als ich zwei bis drei Jahre alt war, wohnten wir eine Zeitlang am Vierwaldstädter See am Fuße des Rigi in Vitznau-Weggis. Ich wurde schon früh für das Laufen trainiert. Mit drei Jahren lief ich bereits mit meinen Eltern auf den 1800 Meter
hohen weltberühmten Rigi. (Über ihn schrieb der amerikanische Humorist Mark Twain in seinem Buch "Bummel durch Europa"). Bei klarem Wetter ist ein großer Teil der Schweiz zu sehen, außer den Schweizer Alpen die französischen, italienischen und österreichischen. Später, am 7. September 1917, habe ich diese phantastische Aussicht bewußt und staunend erlebt. Damals lernte ich die Liebe zur Natur. Dazu verhalfen mir meine Tante und manche Bekannte, die bemüht waren, in der kindlichen Seele diese Empfänglichkeit zu wecken. Wo immer wir wohnten, ob in Genf, Basel oder Zürich, waren die Sonntage und anderen freien Stunden den Naturschönheiten gewidmet. Die Liebe zur Natur begleitet mich das ganze Leben lang. Unter den vielen Bekannten dieser Zeit war auch der berühmte jüdische Schriftsteller Scholom Alejchem, der in Wirklichkeit Rabinowitsch hieß. Er liebte Kinder sehr, und so nahm er mich oft zu Spaziergängen mit und erzählte lustige Geschichten.

1916 zogen auch ich und meine Tante nach Zürich um. Zuerst wohnten wir in einer Wohnung auf dem Abhang am Fluß Limat. Von dort öffnete sich ein schöner Blick auf einen Teil der Stadt. Gegenüber lag der Hauptbahnhof und rechts das Heimatmuseum, dessen Schätze mich bald anlockten und dessen mittelalterliche Möbel mir als Zeichen- und Malobjekte dienten. Ebenso lockten mich die Holzschnitzereien an. Zusammen mit einem Schulkameraden, der Josef hieß und zeichnerisch sehr begabt war, verbrachte ich viele Nachmittage mit Aquarellzeichnen in diesem Museum. Ich zeichnete damals gern und viel. Zu Geburtstagen und zu Weihnachten schenkte ich meinen Angehörigen selbstverfertigte Zeichnungen.

Mein Musikstudium wurde ernster. In Bern begonnen, wollte ich es in Zürich fortsetzen. Meine Mutter hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, und meine Tante wollte nicht aktiv eingreifen. Meine Mutter meinte, ich sollte mich selbst darum kümmern. Und so zog ich als kleiner Steppke von acht Jahren durch die Straßen von Zürich und suchte nach einem Musiklehrer. Ein Namensschild führte mich zu einem solchen. Er empfing mich erstaunt, nachdem ich mein Anliegen mitgeteilt hatte, und fragte, warum niemand von den Eltern mit sei. Ihm imponierte wohl meine Selbständigkeit, und er überprüfte mein Gehör. Dann erklärte er sich bereit, mir Unterricht zu geben. Ich sagte, daß wir nicht viel zahlen könnten, aber er meinte zu meiner großen Freude, ich brauche nichts zu zahlen. Später stellte sich heraus, daß er der beste Konzertpianist Zürichs, vielleicht sogar der Schweiz war. Es hieß Horowitz und war Mitglied der Philharmonie. Ich traf ihn viele Jahre später, 1929 in Zürich in einem Konzert. Er bedauerte es sehr, daß ich mein Musikstudium aufgegeben hatte, seiner Meinung nach sei ich sehr begabt gewesen. Als sich die Gelegenheit bot, setzte ich mit neun Jahren am Züricher Musikkonservatorium das weitere Musikstudium fort. Ich durfte sogar bei einem Konzert des Konservatoriums ein Solo vorspielen und anschließend ein Stück vierhändig mit meinem Klavierlehrer – ich war damals zehn Jahre alt. Um dieselbe Zeit erlebte ich ein Konzert mit Kindern, die, in Rokokokostüme gekleidet, Kompositionen von Mozart vortrugen. Das machte auf mich wie auch auf die anderen Zuhörer einen nachhaltigen Eindruck. Aber besonders verblüfft war ich, als ich unter den Musikanten einen ausgezeichneten Geiger, einen Mitschüler von mir, entdeckte, der als Emigrantenkind polnischer Eltern in der Schule seltene Zurückhaltung übte. Er war über sein Alter hinaus groß und kräftig, und niemals hätte ich ihm diese musikalische Begabung und Sensibilität zugetraut. Zwischen uns bahnte sich eine kurze Freundschaft an, und ich wurde näher bekannt mit dem Kinderorchester unter seinem Pädagogen und Dirigenten Scheichet. Ich sollte mich daran mitbeteiligen, konnte mich aber nicht dazu entschließen.

Meine Tante richtete in Zürich wieder einen Mittagstisch ein. Aber die Gäste waren jetzt meist Schweizer Bürger, Angestellte usw. Darunter war eine Frau, die lange in Nordafrika gelebt hatte und viele exotische Gegenstände von dort mitgebracht hatte. Sie hieß Frau Huber. Mir machte es viel Spaß, sie aufzusuchen, mit ihrem Hündchen zu spielen, die vielen interessanten Sachen zu betrachten und sie selbst zu bewundern, wenn sie sich in tunesische, marokkanische oder algerische Gewänder kleidete. In meiner kindlichen Phantasie fühlte ich mich wie in Afrika. Eines Tages wurde das Gastspiel des weltberühmten Zirkus Hagenbeck angekündigt. Natürlich fieberten wir Kinder diesem Ereignis entgegen. Das Zirkuszelt wurde genau gegenüber unserer Wohnung am Flußufer aufgebaut. Mit Begeisterung halfen wir beim Aufbau mit. Dafür bekamen wir eine Freikarte zur Eröffnungsvorstellung. Für uns war es ein großes Fest, und für das Unternehmen waren wir die billigsten Arbeitskräfte. Meine künstlerischen Ambitionen wuchsen, vor unseren Pensionsgästen habe ich eine selbst improvisierte Theatervorstellung gegeben. Ich spielte alle möglichen Märchenfiguren, verkleidete mich mit wenigen Mitteln, schuf eine kleine Bühne aus Kisten, bunte Decken bildeten den Vorhang. Die Zuschauer amüsierten meine naiven Darstellungen, das Vergnügen war beidseitig.

Wieder zogen wir in Zürich um, nach der Schöntalgasse 14, und wieder änderte sich der Kreis der Pensionsgäste. Die Ausländer herrschten vor, neben Russen auch viele Ungarn, auch sie waren Emigranten. Es war ein buntes Völkchen, das beständig meine Neugier hervorrief. Ich war immer zu einem kleinen Plausch bereit. Dieser ständige Umgang mit Erwachsenen, politisch engagierten Menschen machte mich über mein Alter hinaus verständig. Ich blätterte in Büchern herum, die eigentlich für Erwachsene bestimmt waren. Da die Gäste dies bemerkten, wurde ich zum Geburtstag und zu Weihnachten meist mit Büchern beschenkt. Ich erinnere mich eines Vertreters des Jüdischen Bundes, Dr. Gorodezki, der ein Zionist war und unbedingt darauf drängte, mir das Hebräische beizubringen. Bei meiner jüdischen Mutter stieß er auf strikte Ablehnung. 15 Jahre später traf ich ihn wieder in Berlin in einem Café am Zoo. Unser Treffen war von unversöhnlichen Diskussionen gekennzeichnet. Merkwürdigerweise war täglich bei uns als Mittagsgast ein Fußballer, Mittelstürmer des berühmten Fußballklubs, der Grashoppers in Zürich, bis jetzt eine der bekanntesten Fußballmannschaften der Schweiz. Er versuchte, mein Interesse für seinen Sport zu wecken, aber erfolglos, denn ich hatte mehr für die Leichtathletik übrig. Er hatte nur seinen Fußball im Kopf. Vielleicht war es die Erinnerung an diese Einseitigkeit, die mich dem Fußball gegenüber immer etwas reserviert machte, obwohl ich für Sport durchaus Interesse hatte und im Turnen oder beim Schulsport zu den Besten zählte.

Ich war im Durchschnitt ein guter Schüler. Womit ich mich nicht abfinden konnte, war das Prügeln. Die Erziehung zu Hause gründete sich nur auf Liebe und auf Vernunft. Ich erinnere mich überhaupt nicht, daß Mutter mich jemals geschlagen hätte. Nur ganz selten rutschte meiner Tante die Hand aus, wenn ich es gar zu toll getrieben hatte oder zu frech wurde. Im Gegensatz dazu nun in der Schule ein ganz ausgeklügeltes System von Prügelstrafe mit Stock und Lineal, je nach der Schwere des Vergehens. In der Schweiz habe ich keinen Lehrer und keine Lehrerin erlebt, die nicht geprügelt hätten, mochten sie sonst noch so gute Pädagogen gewesen sein. Das gehörte zum Erziehungspensum.

Ich kann nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob Lenin manchmal noch zu uns zum Essen kam. Ich erinnere mich nur noch an ein Treffen vor seiner Rückkehr nach Rußland. Es war zu Silvester 1916/1917, als ungefähr 40 bis 50 russische Genossen sich in einem bescheidenen Lokal trafen, billigen Tessiner Wein tranken, Lenin sie in kurzen Worten beglückwünschte und auf die zukünftige Revolution das Glas erhob. Er war guter Laune und voller Energie. Zwei Monate später wurde das Zarenregime in Rußland hinweggefegt. Die Zuspitzung der Situation in Rußland erkannten viele, die Revolution war unausweichlich. Aber wann würde sie eintreten – das konnte niemand genau prophezeien. Als dann plötzlich Extrablätter von ihrem Ausbruch informierten, herrschte unter den russischen Politemigranten die größte Aufregung. Es gab nur noch ein Gesprächsthema und einen Gedanken: Wie geht es weiter, wie kommen wir am schnellsten nach Rußland. Die sogenannten Alliierten hätten den Bolschewiki niemals erlaubt, nach Rußland zurückzukehren. Über die Verhandlungen Fritz Plattens als Sekretär der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz mit deutschen Behörden war uns manches bekannt. Er informierte meine Angehörigen darüber, und ich war meistens Zeuge dieser Erzählungen. Man schärfte mir ein, darüber nichts weiterzuerzählen. Ich verstand es, auch uns betraf es unmittelbar, denn selbstverständlich wollte Mutter nach Rußland zurück. Wir wurden in die Reiseliste eingetragen. Mutter hatte sich nur in der Zeitdauer verschätzt und fuhr zur Erholung (sie war sehr erschöpft und nach einer Krankheit gesundheitlich nicht auf der Höhe) nach Ascona, einen kleinen Ort, damals bekannt durch seine Künstlerkolonie am Lago Maggiore, unweit von Locarno. Sie hatte vorher zufällig eine Freundin, eine Mitverbannte aus Sibirien, dort wiedergetroffen: Polja Schenderowitsch – sie war Sozialrevolutionärin, Augenärztin, verheiratet mit einem italienisch-schweizerischen Chirurgen, Dr. Francesco Rusca, der bei dem berühmten deutschen Arzt Robert Koch studiert hatte.

Trotz verwickelter Verhandlungen wurde in kurzer Zeit die Rückreise über Deutschland durchgesetzt.

Es blieben plötzlich nur wenige Tage, ja, man kann fast sagen, Stunden, um aufzubrechen. Mutter war in Ascona erkrankt, und als das Telegramm kam wegen der Abreise, versuchte sie, ihre Krankheit überwindend, mitzufahren. Sie kam aber zu spät an, der Zug war schon abgefahren. Lenin und die anderen hatten damals ihre Haushalte in wenigen Stunden aufgelöst. Unser Haushalt – die Pension, viele Möbel, Bücher und Gegenstände, wir hatten ja viele Jahre in der Schweiz gelebt – konnte nicht so schnell aufgegeben werden. Aber Mutter, wäre sie rechtzeitig nach Zürich zurückgekommen, hätte alles stehengelassen und wir wären fortgefahren. Sachen spielten bei ihr keine Rolle, wenn es um die Partei, um die Revolution ging. Es war für uns alle eine sehr große Enttäuschung, daß wir in der Schweiz bleiben mußten. Wir wurden interniert und warteten auf die nächste Möglichkeit der Ausreise, die allerdings sehr lange auf sich warten ließ.

Die Abreise Lenins aus der Schweiz ist mir in Erinnerung geblieben, weil ich mit meiner Tante am 9. April 1917 in Zürich auf den Hauptbahnhof ging, mit uns Rosa Bloch, eine bekannte Frauenrechtlerin der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Auf dem Bahnsteig vor dem Zug erlebte ich eine stürmische Szene, geprägt von Begeisterung, aber auch von zornigen Zwischenrufen und Beschimpfungen. Lenin, voller Energie und Optimismus, warf eigenhändig einen Spitzel hinaus, der versucht hatte, sich in den Zug zu schmuggeln. Die letzten Abschiedsrufe verschmolzen mit der Internationale – russisch und deutsch gesungen. Danach drehten sich die Gespräche bei uns immer häufiger um die Rückkehr nach Rußland, um den Krieg, um die Revolution. Für mich waren das keine abstrakten Gespräche, sie verbanden sich mit konkreten Menschen, die ja bei uns oft gewesen waren. Mutter hatte sich bemüht, mir schon früh den Kampf der Partei um die Befreiung der Arbeiter verständlich zu machen, während meine Tante, die parteilos war und manches mit Vorbehalt aufnahm, sich mehr um das leibliche Wohl, um die täglichen Dinge kümmerte und mir alles Gute und Schöne im Leben bewußt machen wollte.

Der Weltkrieg forderte immer mehr Opfer. Es wuchs der Widerstand der Völker gegen das Morden. Auch in der neutralen Schweiz machten sich die Kriegsfolgen bemerkbar: Manche Lebensmittel wurden knapp, in den Schulen herrschte Lehrermangel, denn die Lehrer wurden zum Militär eingezogen.

Im Sommer 1917 fuhren Mutter und ich in den Fremdenkurort Wildhaus, in der Ostschweiz in Toggenburg/Kanton St. Gallen gelegen. Die ganze Gegend, überaus gebirgig, war phantastisch schön. Wir fuhren am Walensee vorbei, bereits zur Zeit der Römer ein Verkehrsweg, mit dem Blick auf die bizarren 7 Kurfürsten. Aber das herrlichste war eine Fahrt mit der Postkutsche viele Stunden lang, bis wir ans Ziel gelangten. Wir unternahmen zahlreiche Ausflüge. Eines Tages gelangten wir nach einem anstrengenden Fußmarsch hoch im Gebirge zu der einsamen Hütte eines Sennen, der auf den saftigen Alpenwiesen sein Vieh weidete. Damals waren Milchprodukte nur rationiert zu haben. Meine Mutter erwarb bei diesem Bauern für 20 Schweizer Franken ein großes Stück Butter und wickelte die Delikatesse in ihr grün-seidenes Kopftuch. Sie, einer Zigeunerin ähnlich, gefiel dem jungen, kräftigen, großen und sehr starken Mann, und er machte ihr gleich einen Heiratsantrag. Sie lehnte diese Werbung lachend ab, und ich war stolz auf das Selbstbewußtsein meiner Mutter. In Wildhaus selbst erlebten wir eine aufregende Szene, eine Messerstecherei zwischen einem eifersüchtigen Ehemann und einem seiner Frau sehr sympathischen Ingenieur. Als das 7jährige Töchterchen bitterlich darüber weinte, versuchte ich als junger Kavalier, sie zu trösten. In diesem Ort wurde der berühmte schweizer Reformator Ulrich Zwingli 1484 geboren.

Kinder feiern gern Geburtstage. Damals konnten sie nicht so gefeiert werden, wie wir das heutzutage gewöhnt sind. Aber mein 10. Geburtstag ist mir in Erinnerung geblieben. Wir zogen mit Rucksack und Stock in die Berge und bestiegen gegen ein Uhr nachts den berühmten Berg Rigi am Vierwaldstädter See, um oben auf dem Gipfel den Sonnenaufgang zu erleben. Dieses Bild kann ich nicht vergessen: Die Alpengipfel aller Himmelsrichtungen kleideten sich in die wunderlichsten Farben vom Lilablau über Purpurrot, Rosa, Gold bis zu gleißendem Weiß. Nachdem wir die Naturschönheit reichlich genossen hatten, zog plötzlich unsere Bekannte, Bertha Reich, eine herrliche Torte aus dem Rucksack, die meine Tante gebacken hatte, eine große Meisterin der Koch- und Backkunst.

In dieser Zeit vollzogen sich welthistorische Ereignisse – vor allem die Oktoberrevolution 1917. Mutter litt darunter, daß sie die revolutionären Veränderungen weitab von diesen in dem kleinen, beengten Schwyzerländli erleben mußte. Natürlich gab es nur ein Gespräch, einen Gedanken: Wie nach Sowjetrußland kommen. Aber wir mußten uns mit Geduld wappnen.

Inzwischen ging das Leben weiter. Im Sommer 1918 fuhren Mutter und ich nach Ascona zu den Leuten, die meine Mutter vom vorigen Aufenthalt schon kannte. Es war ein Ehepaar mit zwei Töchtern. Sie war Holländerin und ihr zweiter Mann ein Deutscher. Sie waren hochgebildet und überaus freundlich. Wir fühlten uns bei ihnen sehr wohl. In einem großen Obstgarten mit vielen Blumen und einem herrlichen Blick auf die italienischen Alpen am Fuße des Lago Maggiore erschien uns die Gegend wie das Paradies. Die Hausherrin kochte die feinsten internationalen Gerichte. Diese Tage verflogen wie im Traum. Die jüngere Tochter Bunny, die perfekt Englisch sprach und wie ich 11 Jahre alt war, erweckte in mir die ersten Gefühle einer Kinderliebe. Es herrschte damals eine fürchterliche Hitze, bis zu 50°. Wir schliefen daher auf dem Balkon. Aber nachts war es sehr kühl, und die Quittung dafür war eine starke Erkältung.

Die Umgebung reizte mich zum Zeichnen. Eines Tages, als ich auf der Mauer rittlings sitzend die Dorfkirche mit Umgebung zeichnete, kam der Ortspfarrer vorbei, beobachtete mich und lobte mein Werk. Er fragte, ob ich mit meinen Eltern fleißig in die Kirche ginge. Meine Antwort machte ihn zornig, und er ging, wüst auf italienisch schimpfend, weiter. Damals besuchten wir oberhalb des Ortes den Kunstmaler Arthur Segal. Er sympathisierte mit den Linken. Ein mir unverständliches Gemälde erregte meine Aufmerksamkeit. Auf einem bunten Hintergrund waren Drähte und Streichholzschachteln aufgeklebt. Verblüfft war ich, als er mir erklärte, dies sei die Einfahrt eines Zuges in den Hauptbahnhof von Zürich. Später, in Berlin, begann er, realistisch zu malen. Er zeigte mir ein sehr gutes Porträt von Ernst Thälmann. 1933 mußte er vor den Nazis aus Deutschland fliehen. Er starb in Mallorca. Das Gemälde ging verloren. Sein Sohn, Walter Segal, mit dem ich an der Technischen Hochschule in Berlin Architektur studierte, emigrierte nach England. Nach dem 2. Weltkrieg stieß ich auf seine Artikel in englischen Architektur-Zeitschriften.

1930 besuchte ich bei einem Aufenthalt in der italienischen Schweiz wieder Ascona und Lavecours. Die Mutter war inzwischen gestorben, der Mann lebte noch. Und Bunny, erwachsen, damenhaft, aristokratisch, teilte mir mit, daß sie demnächst den englischen Vizekönig in Indien heiraten würde, mit dem sie verlobt sei. Man kann sich meine Verblüffung vorstellen. Ich reagierte voller Zorn, weil sie jetzt zu einer herrschenden Schicht gehörte, die in den kolonialen Ländern Hunderte von Millionen Menschen unterdrückte und ausbeutete. Bunny weinte bitterlich. Unser Abschied war heftig und für immer.

Der Sieg der Revolution in Rußland zeigte überall in der einen oder anderen Form seine Auswirkungen. Der Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschland, die Niederlage seiner Armee ließen in Deutschland eine revolutionäre Situation heranreifen. Die Schweizer Presse war voller sensationeller Berichte. Das sozialdemokratische Organ "Volksrecht", von linken Sozialdemokraten geführt, war bemüht, das Bild der revolutionären Situation wiederzugeben. Ich begann um diese Zeit, die Zeitung zu lesen, und hatte das Bedürfnis, nicht nur passiv die Ereignisse zu verfolgen. Als im November 1918 als Echo der Oktoberrevolution und der Novemberrevolution in Deutschland in der Schweiz der erste Generalstreik in der Geschichte dieses friedlichen Ländchens stattfand, verwandelten sich die Straßen Zürichs in einen Hexenkessel. Extrablätter, Flugblätter wurden den Zeitungsverkäufern aus den Händen gerissen. Die Hauptstraße der Stadt – die Bahnhofstraße, die Straße der Banken, vornehmer Läden, Cafés – wurde zum Sammelpunkt von Demonstranten. Ich eilte, sobald ich konnte, dorthin. Mit kindlicher Begeisterung wartete ich darauf, daß jetzt, gleich hier, die Revolution beginnen würde, von der so viel gesprochen und geschrieben wurde. Als Geld für die Streikenden gesammelt wurde, meldete ich mich und stürzte mich mit Feuereifer in diese erste politische Tätigkeit. Ich ging gleich zur Bahnhofstraße und sammelte dort mit Erfolg, denn ich konnte die Leute deutsch, französisch oder russisch ansprechen. Natürlich bekam ich auch viele Schimpfworte zu hören, Androhungen von Prügel. Das Tollste organisierte meine Mutter: Sie zwang ihren Unternehmer, einen großen Geldschein in meine Büchse zu stecken. Natürlich tat er es mit süßsaurem Gesicht. Er wußte, welche qualifizierte Putz-Direktrice er in meiner Mutter hatte, die die elegantesten Hüte in Zürich mit Pariser Chic herstellte. Selbstverständlich war ich stolz, daß ich von allen im Streiklokal die größte Summe beibrachte – an die 400 Franc. Das war für die damalige Zeit sehr viel Geld. Ich erzählte von dem Unternehmerbeitrag, es gab ein herzliches Gelächter.

Um diese Zeit organisierte Mutter den 1. Putzmacherinnenstreik, der erfolgreich verlief. Natürlich war das ein Risiko für sie, zumal wir als internierte Ausländer in einer schwierigen Lage waren. Aber Mutter verstand es geschickt, halblegal zu wirken. Ihr Unternehmer, der davon wußte, wollte sie nicht verlieren, und so wurden mit dem Streik auch in den anderen Ateliers die Streikforderungen durchgesetzt. Mutter verband ihre tägliche Arbeit mit anschaulicher politischer Agitation, so paradox das war, daß sie als leitende Kraft, als Direktrice, nicht nur die Interessen der Arbeiterinnen wahrnahm, sondern selbst kämpferisch und initiativ war. Sie verstand es sehr geschickt, legale Aktionen mit illegalen zu verbinden. Ich erinnere mich, wie wir in einer Mittagspause, die zwei Stunden dauerte, ein Ruderboot mieteten – mir machte das Rudern großen Spaß –, und Mutter den Modistinnen erläuterte, warum der Streik notwendig war.

Während des Krieges gelang es meiner Mutter, den Bruder ihres Mannes, Walter Heumann, zur Erholung in die Schweiz einzuladen. Er war vollkommen erschöpft von Krieg, Krankheit und Hunger und glich einem Skelett. Mit Hilfe meiner Tante konnte er in einigen Wochen durch eine wirkliche Mastkur – bis heute staune ich, wie und wo sie diese Lebensmittel und Delikatessen aufgetrieben hatte, die ich sonst nicht kannte – wieder zu einem gut genährten, kräftigen Mann aufgepäppelt werden. An diese Schweizer Tage hat er sich später immer wieder mit großer Dankbarkeit erinnert. Ich selbst staunte damals über die Mengen, die er verschlingen konnte, er aß fast ununterbrochen. Gleichzeitig wurde er in die große Politik einbezogen. Seine Erzählungen dienten als Material für so manchen Antikriegsartikel, der in der sozialdemokratischen Zeitung, dem "Volksrecht", erschien.

Nach dem Ende des Krieges tauchte eines Tages plötzlich Otto Heumann bei uns auf. Ich erkannte ihn nicht sogleich, immerhin waren fünf Jahre verstrichen. Er war viel schlanker geworden. Sein Besuch war illegal, das heißt, er hatte die Grenze ohne Papiere überschritten; das wurde ein bis zwei Jahre lang praktiziert. Er brachte immer sehr interessante Materialien über die revolutionären Kämpfe der deutschen Arbeiterklasse der Jahre 1918/1919 mit, an denen er sich jetzt aktiv beteiligte. Er war Kommunist geworden, beteiligte sich an den Spartakuskämpfen in Berlin und, wie schon erwähnt, an der Münchner Räterepublik von 1919. Seine Erzählungen beeindruckten mich viel stärker als das Gelesene. Ich bekam eine lebendige Vorstellung von den damaligen revolutionären Ereignissen in Deutschland, soweit ich das in meinem Alter von 11 bis 12 Jahren verstehen konnte. Aber Emigrantenkinder standen aufgrund ihres Milieus und ihrer Erlebnisse diesen Dingen aufgeschlossener gegenüber als ihre Altersgefährten.

Die revolutionären Ereignisse in Ungarn im Frühjahr 1919, die zur Errichtung der Räterepublik dort führten, wurden zum Mittelpunkt heftiger Diskussionen und Auseinandersetzungen auch in unserer Umgebung. Die Zusammensetzung unserer Pensionsgäste hatte sich wieder verändert. Nach dem ersten Weltkrieg tauchten bei uns Ungarn auf, darunter ein sehr feiner, bescheidener "Genosse Mandel" (Farkas Lebowitz?), sehr gebildet, ein Arbeiter. Er hatte ein einfaches Schweizer Mädchen geheiratet, das sich später von ihm trennte, um eine "gute Partie" zu machen. Als die Ereignisse in Ungarn begannen, fuhr er illegal dorthin und wurde Zeuge der Kämpfe und der tragischen Niederlage. Und wieder erfuhren wir in der Schweiz von großen Ereignissen nicht aus abstrakten Zeitungsartikeln, sondern aus lebendigen Schilderungen eines kämpfenden Revolutionärs. Unter lebensgefährlichen Umständen gelang es ihm, aus Ungarn zu fliehen. Er tauchte wieder bei uns auf und erzählte ausführlich über die Ereignisse. Da fiel auch der Name Bela Kun. Alle ehrlichen Genossen waren über diese Niederlage zutiefst erschüttert. Nur 133 Tage bestand die ungarische Rätemacht, und trotzdem ging sie in die Geschichte ein als ein internationales Ereignis des Heldentums der ungarischen Arbeiter. Wahrscheinlich wird es nur wenige Menschen geben, die so viele wütende und haßerfüllte Angriffe und gleichzeitig so viel heiße und begeisterte Liebe und Anerkennung erlebten wie Bela Kun. Er hatte beides verdient: den Haß der Klassengegner und die Liebe der Revolutionäre. Und wer konnte ahnen, daß ich diesen großen Revolutionär 15 Jahre später in Moskau kennenlernen sollte! Wie es besonders nach Niederlagen der Fall war, wälzte sich eine Schmutzflut von Schmähungen, Lügen, Entstellungen über die Ungarische Räterepublik, auf ihre Führer und Kämpfer. Das kleinbürgerliche, muffige schweizer Milieu nahm solchen Schmutz mit Wonne auf und spülte ihn weiter in die Öffentlichkeit ... Bela Kun starb als Opfer stalinscher Repressionen am 30. November 1939.

Ich war als Kind oft krank, meist waren es Mandelentzündungen. Mehrmals gab es kleine Operationen, aber die Mandeln wuchsen nach. In Basel, als ich 6 Jahre alt war, mußte der Arzt, um mich operieren zu können, mehrere Male um den Tisch rennen, um meiner habhaft zu werden. Es war zum Weinen und zum Lachen zugleich. Seit dieser Operation war ich Ärzten gegenüber sehr aggressiv. Später, in Zürich, im Alter von elf-zwölf Jahren, sollte wieder eine Mandeloperation erfolgen. Ein italienischer Arzt in der Bahnhofstraße übernahm den Auftrag. Ich ging allein zu ihm, ließ mich mit Riemen an den Operationssessel anschnallen. Als er mit dem ersten Zangengriff begann, wurde mir der Schmerz zu groß, ich sprengte den Riemen, stieß die Schwestern beiseite und stürzte mich auf den Arzt. Damit war natürlich die Behandlung erledigt.

Als ich am 1. Mai 1919 mit einer roten Nelke im Knopfloch in der Schule erschien, gab es fast eine Explosion: Die einen wollten mich verprügeln und schrien "roter Sozi", die anderen zeigten, zwar schüchtern, ihre Sympathie. Die Lehrer verlangten, ich solle die Nelke abnehmen (sie waren fast durchweg staatsergebene, treue Beamte). Ich weigerte mich und wurde verprügelt. Es begannen Schikanen. Ich erzählte zu Hause von dieser Begebenheit, die schweizerischen sozialdemokratischen Genossen wurden darüber informiert. In der Stadtverordneten-Versammlung wurde mein Fall sogar Gegenstand einer heftigen Debatte. Ich fühlte mich in meiner gerechten Sache bestärkt, wagte mich noch einen Schritt weiter und schlug vor, einen Vertrauensmann der Schüler zu wählen. Man wählte mich, und so geriet ich in die nicht unkomplizierte Lage, vor den Schülern und den Lehrern die Situation analysieren zu müssen, ohne konkrete Lösungsvorschläge vorbringen zu können, umgeben zudem von Skepsis und Feindseligkeit. Zu Hause wurde ich zwar moralisch unterstützt, aber helfen konnte man mir nicht. Ich war damals 11 Jahre alt. Es gelang mir allmählich, von einigen Schülern unterstützt, eine gewisse Neutralität unter den Lehrern zu erzielen. Aber mein Klassenlehrer, ein gewisser Moser, ein typischer Pauker, versuchte öfter, mich mit dem Stock zu überzeugen. Obwohl er wußte, daß ich Dissident war, also keiner Religionsgemeinschaft angehörte, zwang er mich, am Religionsunterricht teilzunehmen. Er stellte mir immer wieder Fragen aus der Bibel. Diese Menge von Schikanen und Nadelstichen bewirkte das Gegenteil, schürte nur meinen Oppositionsgeist. Aber die Situation verleitete mich nicht dazu, meine schulischen Leistungen zu mindern oder nur das Allernotwendigste zu tun. Bei den Schulaufgaben konnte mir niemand helfen, ich mußte mich selbst durchboxen. Heute wundere ich mich darüber, daß ich nicht als lästiger internierter Ausländer aus der Schule hinausgeworfen wurde. Das Schild der Schweizer Demokratie und der Kampf der SP in Zürich, die damals links stand, verhinderten wahrscheinlich eine solche radikale Lösung.

Inzwischen hatte ich die sogenannte Primanerschule (Volksschule) mit ihren 8 Klassen beendet und begann mit den ersten Unterrichtsstunden in der sogenannten Sekundanerschule (Oberschule). Aber es waren nur wenige Tage, denn plötzlich trat eine andere Situation ein.

Im April 1920 wurde ein neuer Zug für die Rückkehr der russischen Emigranten zusammengestellt, der in wenigen Tagen nach Rußland fahren sollte, und wie 1917, als Lenin aus der Schweiz wegfuhr, mußte in wenigen Tagen der Haushalt aufgelöst werden, und er war nicht klein, vor allem wegen der "Pension Tarschis": Meine Tante hatte sehr viel Geschirr, Besteck, Möbel usw.
Inzwischen hatte sich auch eine beträchtliche Bibliothek angesammelt. Die ganze Familie las viel. Und da die Pensionsgäste meinen Lesehunger kannten, bekam ich an meinem letzten Geburtstag in der Schweiz 1919 über ein Dutzend Bücher geschenkt. Da ich durch die ständige Berührung mit vielen Erwachsenen über mein Alter hinaus ernst war, schenkte man mir Bücher, die nur für schon philosophisch geschulte Erwachsene in Betracht kamen. Ein wohlmeinender Gast unseres Hauses schenkte mir zum Beispiel das Buch von Max Stirner "Der Einzige und sein Eigentum". Stirner wurde von Marx und Engels als philosophischer Begründer des Anarchismus scharf kritisiert. Ich habe dieses Buch lange, bis 1933, in meiner Bibliothek aufbewahrt.

Mutter war damals im Besitz eines einzigartigen Passes: Er war noch von der zaristischen Regierung ausgestellt, trug einen Stempel der Kerenski-Regierung und wurde zuletzt von der ersten sowjetischen Vertretung in der Schweiz signiert. Dieses einzigartige Dokument hat sie später (1958) dem Revolutionsmuseum in Moskau übergeben. Die Schweizer Behörden wollten mir einen Schweizer Paß ausstellen. Davon konnte aber keine Rede sein.

Mit unserem Eisenbahnzug, der nun die Schweiz verließ, fuhren einige hundert russische Genossen, die infolge verschiedener Umstände in verschiedenen westeuropäischen Ländern geblieben waren und zu diesem Zeitpunkt in ihre Heimat zurückkehren wollten. Die soziale Zusammensetzung war sehr bunt. Ich erinnere mich, daß Alexander Birjukow, der ehemalige Sekretär von Leo Tolstoi mitfuhr. Auf seinen Antrag und seine Bürgschaft hin war Lenin im Dezember 1904 in Genf in die "Societé de Lecture" aufgenommen worden, eine Lesegesellschaft mit einer sehr guten und umfangreichen Bibliothek. In diesen Zug, der in Basel zusammengestellt wurde, schmuggelten die Genossen unter falschem Namen auch Otto Heumann, den Lebensgefährten meiner Mutter. Er durfte, solange wir auf dem Territorium Deutschlands fuhren, seine Muttersprache nicht benutzen. Das war nicht einfach, denn die russische Sprache beherrschte er gar nicht. Als die Arbeiter der Stadt Basel von der Abfahrt unseres Zuges erfuhren, versammelten sie sich an einem späten Abend zu einer mächtigen Solidaritätskundgebung auf dem Bahnhofsvorplatz. Es waren ungefähr 250.000. Die Regierungskreise waren von dieser Masse und dem Ausdruck der Sympathie für Sowjetrußland so erschrocken, daß in Eile Militär nach Basel zusammengezogen wurde. Es kam zu blutigen Zusammenstößen, und die Genossen unseres Zuges formierten sich zu einer Demonstration und marschierten mit einer roten Fahne, die plötzlich wie durch Zauberei auftauchte, den Schweizer Arbeitern entgegen. Das war für das Militär das Signal, mit gefälltem Bajonett und mit Schußwaffen anzugreifen. Viele wurden verwundet. Aber die Kampfbereitschaft war so groß, daß niemand zurückwich. Unter dem Gesang der "Internationale" und der "Warschawjanka", die ich damals zum ersten Mal in russischer Sprache auf der Straße hörte, kam es zu einer bewegenden Verbrüderung. Wir mußten unsere verwundeten Genossen in den Zug
zurücktragen. Da kein Verbandszeug vorhanden war, zerrissen viele ihre Hemden und verbanden damit die Verwundeten. Es herrschte eine großartige Stimmung und ein unbezähmbarer Kampfgeist. Natürlich gab die Bahnhofsleitung gleich die Anweisung, den Zug schnellstens abfahren zu lassen. Vor jedem Abteil postierten sich deutsche Gendarmen, die Türen wurden verschlossen, und wir waren damit Gefangene in einem plombierten Zug. Die Vorsichtsmaßnahmen gingen so weit, daß auch ich als zwölfjähriger Junge unter Gendarmenbewachung zur Toilette gebracht wurde. Obwohl die deutschen Behörden versucht hatten, die Existenz und das Fahrziel dieses Zuges geheimzuhalten, erfuhren es revolutionäre Arbeiter in Deutschland doch. In Kassel und in den Städten des Ruhrgebietes – unser Zug fuhr nach Holland – waren die Bahnhöfe gesperrt und von Polizei und Militär bewacht. Aber hinter den Sperren sammelten sich viele Menschen mit roten Fahnen, die Demonstranten grüßten uns und sangen revolutionäre Lieder. Es waren unvergeßliche Erlebnisse, die sich im Gedächtnis einprägten als bewegende Erinnerung an demonstrative Äußerungen der großen Sympathien für das damalige Sowjetrußland. Es war außerdem noch am Vorabend des 1. Mai. Und so gewannen diese Solidaritätskundgebungen einen besonders stürmischen Charakter. Die Gendarmen unseres Zuges verhinderten natürlich eine direkte Kontaktaufnahme und Verbrüderung. Wir konnten nur durch Zurufe und den Gesang revolutionärer Lieder unsere Gemeinsamkeit ausdrücken.

Unsere Eisenbahnreise endete in Rotterdam. Dort begrüßte uns der sowjetische Botschafter Worowski, der später in der Schweiz ermordet wurde. Hier wurden wir auf ein Hospitalschiff verladen, dessen Mannschaft aus englischen Offizieren und schwarzen Kolonialsklaven bestand. Die Behandlung der Matrosen durch die Offiziere, die die Mannschaft bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Peitschen und Eisenketten schlugen, rief unter unseren Genossen tiefste Empörung hervor. Es gelang nur mit Mühe, einen blutigen Konflikt zu vermeiden. Besonders die Jüngeren mußten mit größter Geduld zurückgehalten werden, sonst drohte unsere gesamte Weiterreise in Frage gestellt zu werden. Die Vereinbarungen mit der englischen Regierung waren unter sehr komplizierten Bedingungen zustande gekommen. England hatte sich erst kurz zuvor an der Intervention der 14 Mächte gegen Sowjetrußland direkt beteiligt. Jetzt tobte der Krieg zwischen Sowjetrußland und Polen. Daher mußten wir auf großen Umwegen nach Moskau fahren. Bekanntlich hatte England neben Frankreich die polnische Regierung aktiv unterstützt. Daher wäre ein Konflikt mit unserer Gruppe ein willkommener Anlaß gewesen, eine Provokation mit weitgehenden Folgen zu organisieren. Die Ostsee war noch vom ersten Weltkrieg her stark vermint, und wir schliefen deshalb in Hängematten mit Rettungsringen in beständigem Alarmzustand. Die englischen Offiziere suchten immer wieder
Anlaß zu Provokationen, und je länger ihnen das mißlang, desto raffinierter wurden ihre Methoden. Wir wurden wie Gefangene behandelt, durften nicht mehr an Deck, als wir durch die Ostsee fuhren. Schließlich wurden wir plötzlich auf hoher See auf einen englischen Kreuzer umgeladen. Dort zwang man uns, mit unserem Gepäck auf offenem Deck bei hohem Seegang und kaltem regnerischem Wetter stundenlang zu stehen. Unter diesen Umständen war äußerste Selbstbeherrschung notwendig. Besonders schwer war das für die kleinen Kinder. Aber die starke moralische Solidarität besiegte auch hier die gemeine Behandlung.

Wir wurden in Litauen in Libau an Land gesetzt und dort von der reaktionären Regierung wie Schwerverbrecher empfangen. Jeder einzelne wurde von einem Soldaten mit vorgestrecktem Bajonett, das bedrohlich gegen den Rücken gerichtet war, mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in kahle Aufenthaltsräume geleitet, wo uns harte Holzpritschen erwarteten. Und hier versuchten die litauischen Militärs, uns mit primitiv-gemeinen Methoden einzuschüchtern. Bei jeder Gelegenheit wurden die Peitschen gegen uns gebraucht. Aber die Gewißheit, daß uns nicht mehr viel von Sowjetrußland trennt, gab allen die Kraft, keine Schwäche zu zeigen. Es war bewundernswert, wie überlegt sich alle Genossen mit ihren Frauen und Kindern verhielten und wie der Stolz es nicht zuließ, daß der Gegner irgendwo eine Lücke finden konnte.

Als nach bangen Tagen der Hinhaltetaktik der litauischen Regierung wir endlich im mühseligen Fußmarsch die sowjetische Grenze erreichten und die ersten Rotarmisten uns begrüßten, fand der Jubel kein Ende. Die Genossen umarmten sich mit Freudentränen, einige küßten die Erde. Eine unvergeßliche Überraschung erwartete uns anschließend. Wir konnten die Stimme Lenins auf einer der ersten Schallplatten hören: "Was ist die Sowjetmacht?" Im Güterwagen fuhren wir im Schneckentempo in Richtung Moskau. Das Eisenbahnwesen war infolge von Krieg und Bürgerkrieg vollkommen zerrüttet. Die Strecken wurden hauptsächlich von Militärzügen befahren. Denn noch tobte der Bürgerkrieg. Es herrschten Not und Hunger, es fehlte an allem. Sobald die Rotarmisten von unserer Gruppe erfuhren, entstanden improvisierte Meetings, gemeinsam wurden revolutionäre Lieder gesungen. Der Optimismus, die Freude über die Begegnungen fanden immer wieder in den temperamentvollen russischen Volkstänzen ihren Ausdruck, an denen sich alle beteiligten, alt und jung.

Wir kamen nach unserer strapaziösen und abenteuerlichen Fahrt aus der Schweiz in Moskau auf dem damaligen Brjansker (jetzt Kiewer) Bahnhof an. Kurz zuvor hatten wir noch unweit von Moskau das Neue Jerusalemer Kloster in Istra besucht und die vereinbarte Zeit versäumt, der Zug fuhr ohne uns ab. Es gelang erst mit größten Anstrengungen, eine Lokomotive ausfindig zu machen, und wir fuhren mit ca. 20 Mann, auf dieser Lokomotive stehend, unserem Zug nach.

 

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